Hamburg. Der Erkenntnisgewinn der Inszenierung „Die Antiquiertheit des Menschen“ im Malersaal des Schauspielhauses bleibt leider gering.
Die Lokomotive ist imposant. Der Nachbau einer „Pacific“, wie sie im 19. Jahrhundert durch die Prärie in Richtung Westen ratterte, nimmt mehr als die Hälfte der Bühne im Malersaal ein und scheint direkt in die Zuschauer hineinzurasen. Ein Cowboy (Aljoscha Stadelmann) taucht auf, öffnet seinen Staubmantel und zeigt den tief hängenden Colt. „Die Zukunft ist unvermeidlich“, deklamiert er und erschießt eine hübsche Indianerin (Sachiko Hara). Für die Ureinwohner Amerikas bedeutete dieser Satz Vertreibung und nahezu Genozid. Die dezimierten Stämme wurden nach Ende der Indianerkriege in Reservate entsorgt, sie standen der Zukunft im Weg. Die von Bühnenbildnerin Janina Audick kreierte Lokomotive ist das Symbol für den Fortschritt, der sich auf Schienen den Weg nach Westen bahnte und den Indianern ihr Land, ihre Büffel und ihre Lebensgrundlage nahm.
In der Inszenierung „Die Antiquiertheit des Menschen“, die am Freitag Premiere im Malersaal hatte, ist dieses Wildwest-Motiv nur eines von vielen Beispielen für die Fortschrittskritik, wie sie der deutsche Philosoph Günther Anders 1956 und 1980 formuliert hat. Unter dem Eindruck der Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki entwickelte Anders die These, dass der Mensch nicht mehr Herr über die selbst von ihm entwickelten und gebauten Maschinen sei. In seiner pessimistischen Weltsicht führt der 1936 in die USA emigrierte Philosoph aus, dass die technischen Fähigkeiten den Menschen überfordern, moralische Grenzen zu setzen. Der Mensch gibt seine Macht an immer bessere Maschinen ab und verliert dadurch seine Menschlichkeit. Atomwaffen werden zur apokalyptischen Bedrohung, der Mensch läuft Gefahr, sich selber abzuschaffen.
Von Weltuntergang ist bei Suse Wächters Inszenierung dieses schwierigen Stoffes wenig zu spüren. Im Gegenteil. Der Abend hat eine ganze Reihe niedlicher Momente. Verantwortlich dafür sind die Alsterspatzen. 21 adrett gekleidete Jungen und Mädchen gruppieren sich um die Lokomotive und singen mit glockenhellen Stimmen. Manchmal drängen sie sich auch in Schafskostümen um das schwarze Ungetüm und werden vom Cowboy wieder in die Kulissen vertrieben. Im Wilden Westen waren Schafe eher selten, vielleicht ging es Wächter darum, eine Herde zu zeigen. Der Mensch als Herde, der willig jedem Fortschritt hinterherläuft? Ein etwas platter Gedanke. Vielleicht war die Aufgabe, die Wächter sich gestellt hat, zu groß. Anders’ komplexe Gedankenwelt wird nur angerissen, der Erkenntniswert bleibt gering.
Ursprünglich sollte „Die Antiquiertheit des Menschen“ bereits am 12. Dezember aufgeführt werden. Am Tag der Premiere wurde sie sehr kurzfristig abgesagt. Theaterleitung und Produktionsteam waren unzufrieden mit dem Ergebnis und probten eine weitere Woche. In der Begründung hieß es, dass man mehr Zeit gewinnen und Erfahrungen mit dem Publikum in die Inszenierung integrieren wolle.
Die stärksten Momente hat die Aufführung, wenn Wächter ihre Puppen mit ins Spiel bringt. „Puppenshow nach Günther Anders“ lautet der Untertitel der Inszenierung. Wächter, eine Koryphäe für erwachsenes Puppentheater, lässt Karl Marx, Charles Darwin, Sigmund Freud sowie das Skelett einer Frau aus dem 19. Jahrhundert als Gliederwesen auftreten. Die Puppen sprechen mit Wächters Stimme über Evolution, Scham, Maschinensysteme. Dann prasseln Gedankenfluten auf den Zuschauer nieder, und man fühlt sich gemüßigt, die Kernsätze in Gedanken mit einem Marker zu unterstreichen. Auch Aljoscha Stadelmann, später ohne Cowboy-Outfit, steigt in diesen Diskurs ein, stellt Fragen nach dem Preis des Fortschritts, beschreibt Obsessionen mit Automobilen und übt Kapitalismuskritik. Die Unterwerfung des Menschen unter die Maschine zeigt er plakativ, wenn er die Lokomotive in erotischem Überschwang ableckt. Vom Puppen-Freud erhält er eine Therapiestunde über Scham.
Vernetzung ist ein weiteres aktuelles Thema der Aufführung. Die Stadelmann-Figur will der Zeit ein Schnippchen schlagen. „Als wolle Gott uns nerven, hat er uns Zeit und Raum gegeben“, moniert der Schauspieler. Mit einem Hochleistungsprozessor könne er sich viel schneller riesige Datenmengen einführen, als das mit normaler Kommunikation möglich sei.
Moderne Zellbiologie thematisiert Wächter ebenfalls. Sachiko Hara kommt mit einer Puppe auf die Bühne, die ihr wie aus dem Gesicht geschnitten ist. Wenn der Mensch sich selbst klonen kann, ist der Weg zur eigenen Abschaffung nicht mehr weit. „Wenn eine Maschine Mensch wird, wird sie böse, weil der Mensch böse ist“, sagt die Schauspielerin. Doch der Android ist schon kaputt. Mit verdrehten Gliedmaßen ist er auf einem Sofa drapiert und nichts weiter als Puppenschrott.
Am Ende des Spiels kommen noch einmal die Alsterspatzen auf die Bühne und singen ein Lied mit dem Refrain „Rettet die Wale“. Die Kinder sind das Symbol für reine Unschuld. Doch die hat die Menschheit schon lange verloren. Nicht erst mit der Atombombe. Amerikas Indianer könnten dazu ein vielstrophiges Klagelied anstimmen.
Die Antiquiertheit des Menschen, Malersaal des Schauspielhauses (U/S Hbf.), Kirchenallee 38, nächster Termin 29.1., 20 Uhr, Karten ab 9 Euro: T. 248713