Hamburg. Starregisseurin Katie Mitchell hat die Saison am Schauspielhaus mit einem hochaktuellen Stück eröffnet - überzeugt hat es nicht jeden.
Drüben, auf der anderen Seite der Hamburger Kirchenallee direkt am Hauptbahnhof, erhalten Flüchtlinge von Freiwilligen Essen, Getränke und Spielzeug für die Kinder. Und Tipps für die Weiterfahrt. Die Menschen aus Syrien und anderswo, gerade mit dem Zug aus München gekommen, wollen weiter nach Lübeck, Kiel, Schweden.
Sie haben keinen festen Boden unter den Füßen. Praktisch hautnah rückt damit die Aktualität an Herta Müllers Roman „Reisende auf einem Bein“ (1989), der in einer Fassung von Starregisseurin Katie Mitchell und Dramaturgin Rita Thiele die Saison im Deutschen Schauspielhaus Hamburg eröffnet hat. Die Aufführung über Fremdsein und Heimatlosigkeit erhielt am Freitagabend viel Premierenapplaus - konnte einen aber auch eher kalt lassen.
Natürlich sind die Situationen der Fremdheit nicht völlig zu vergleichen: Denn die Nobelpreisträgerin beschreibt autobiografisch inspirierte Erfahrungen einer deutschsprachigen Banater Schwäbin zuerst in Ceausescus Rumänien und dann, nach ihrer Ausreise in den 80ern, in West-Berlin. Dabei gehen Müllers Sprachpräzision, Einfachheit und Kraft unter die Haut - Irritation und Distanz zwischen Beobachterin und Umwelt lassen sich so dort und hierzulande fühlen.
Wohl deshalb entschied sich Mitchell, die als Britin einen Blick von außen auf Deutschland hat, für eine nur mittelbar zu erlebende Inszenierung: Abend für Abend entsteht auf großer Leinwand über der Bühne ein von rohen Klängen unterlegter „Film noir“, der Szenen aus dem Leben der Hauptfigur Irene zeigt. Gefilmt wird mit siebenköpfigem Ensemble.
Hier hat Alex Eales bemerkenswerte Arbeit geleistet: Ins Halbdunkel setzt der Bühnenbildner ein enges Kinokulissen-Labyrinth aus Altbaukammern, Verhörräumen, Telefonzellen, Mietskasernenwänden und U-Bahnschächten. Ständig werden die Stellwände umgeordnet. Ein Trupp schwarz gekleideter Bühnenarbeiter und Techniker ist pausenlos aktiv, hält Kameras auf die Darsteller, die jeweils am Zuge sind.
Sehr fein und zurückgenommen zeichnet Julia Wieninger dabei ihre Irene, ein geschlagenes, gehetztes, misstrauisches Reh, das dennoch seine Wahrnehmung und Reflexion, und damit seine Würde, bewahrt. Alle Beziehungen dieser Einzelkämpferin sind bodenlos - Geheimdienstler in Ost (Michael Prelle) und West (Paul Herwig), der Behördenmann (Achim Buch), deutscher Freund (Philipp Hauß) und rumänische Freundin (Ruth-Marie Kröger) setzen ihr schwer zu.
„Es war eine Stille wie zwischen Hand und Messer - gleich nach der Tat“, sagt Irene und blickt aus ihrer schäbigen, kahlen Wohnung auf die Berliner Mauer. Aus Zeitungsschnipseln, die unter anderem den toten Politiker Uwe Barschel in der Badewanne zeigen, formt sie eine Collage, wie um darin eine eigene Identität erkennen zu wollen. In der Handlung folgt Mitchells Inszenierung, die auch Motive aus Müllers „Herztier“ von 1993 aufgenommen hat, dem Roman. Dessen - der einzigartigen Sprache geschuldeten - Eindringlichkeit erreicht die Theaterversion kaum.
In der Bebilderung wirken die Empfindungen und Gedanken fast seicht und eindimensional. Und die Gleichsetzung der Erfahrungen mit Securitate und BND, die Kritik an der manipulierenden Werbung im Westen, das Verstehen der unglücklich machenden Strukturen in Ceausescus Rumänien und das Nicht-Durchschauen der Gründe des Elends im Westen - solche Aspekte kommen auf Bühne/Leinwand teilweise wie Behauptungen aus einem Polit-Handbuch daher. Da helfen auch die wiederholt eingestreuten Müller’schen Prosa-Zitate wenig.
Es ist Mitchells dritter Abend für das Schauspielhaus im Auftrag von Intendantin Karin Beier. Zuvor hatte sie dort mit dem Euripides-Projekt „Alles Weitere kennen Sie aus dem Kino“ (2013/14) und Becketts Endzeitdrama „Glückliche Tage“ (2014/15) Furore gemacht.