Hamburg. Ein Gespräch über Flüchtlinge, Olympia und die Suche nach Zufriedenheit mit St.-Katharinen-Pastor Frank Engelbrecht.

Kaum ein Thema bewegt die Deutschen derzeit so enorm wie das „Teilen“: Geteilter Raum, geteilte Zeit, bisweilen auch: geteilter Hass. Anlässlich der Evangelischen Akademiewoche, die seit dem Wochenende auch in Hamburg stattfindet und Diskussionen, Seminare und Podiumsgespräche bündelt, sprachen wir mit Frank Engelbrecht, Pastor an St. Katharinen, über den Begriff „Teilen“.

Hamburger Abendblatt: Wie steht es um die christliche Praxis des „Teilens“ derzeit?

Frank Engelbrecht: An unserer Praxis des Teilens entscheidet sich unsere Zukunftsfähigkeit. Grundlegende Lebensmittel wie gesundes und schmackhaftes Essen, sauberes Wasser, frische Luft, Energie, Bildung, Teilhabe, Freiheit des Glaubens und der Meinung und die Achtung der Menschenwürde sind weltweit über die Maßen ungerecht verteilt. Wir erleben, wie daraus Kämpfe und Kriege um Ressourcen entstehen, die uns lokal und global in Sackgassen führen, wie wir es deutlich im Nahen Osten erleben. Wir erleben aber auch, wie Einzelne, Gruppen, ganze Gesellschaften intelligente Wege finden, Solidarität mit Gewinn für alle zu organisieren.

Hat Barmherzigkeit, die mit dem Teilen immer verbunden ist, in der modernen Ego-Gesellschaft noch eine Chance?

Engelbrecht: Davon bin ich fest überzeugt. Egoismus und Eigennutz sind zwar etwas sehr Menschliches. Zugleich widersprechen Sie aber zutiefst unserer Menschlichkeit. Als ich neulich eine Freundin fragte: „Was ist die Steigerung von Glück?“, antwortete sie: „Gemeinsam glücklich sein.“ Genau! Der Mensch ist ein zutiefst soziales Wesen, das von Mitgefühl und Barmherzigkeit ebenso lebt wie von Essen, Trinken und Luft. „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei!“, sagt Gott in der Schöpfungsgeschichte.

Und schauen Sie auf den Siegeszug der Kommunikationsmedien: das Internet lebt vom „Teilen“. Mitgefühl und Barmherzigkeit entsprechen unserer Menschlichkeit und machen uns reicher als alles Geld und alle Selbstoptimierung der Welt. Fragen Sie mal einen der vielen ehrenamtlichen Helfer in den Erstaufnahmestellen für Flüchtlinge nach der Erfüllung. Die werden Ihnen erklären, was ich meine.

Findet angesichts der Flüchtlingsproblematik zurzeit in Deutschland auch ein Kulturkampf um das Teilen statt?

Engelbrecht: Ja, wenn Kulturkampf meint, dass wir darum ringen, den kulturellen Horizont unseres Kulturbegriffs zu erweitern. 1989 haben wir so eine Horizonterweiterung erlebt und das Ende der Kultur des Kalten Krieges mit Freude begrüßt. Die immensen Flüchtlingsbewegungen lassen sich als nächster Schritt dieser Bewegung verstehen. 1989 ging es vor allem um die Einheit Deutschlands und Europas. Heute stehen wir vor der Herausforderung der einen Welt. Sozial und ökologisch ist das längst überfällig, so wie das Ende der DDR 1989 längst überfällig war.

„Geteilt“ wird auf Facebook jeden Tag millionenfach. Vieles davon dient aber eher dem Narzissmus, weil nur wer teilt, auch sichtbar ist. Entwertet das den Vorgang?

Engelbrecht: Ich würde das nicht so negativ sehen. Das vielfache Teilen im Internet offenbart für mich die tiefe menschliche Sehnsucht, in Verbindung zu stehen. Dazu gehört auch sehen und gesehen werden. Diese Sehnsucht lässt sich missbrauchen. Spannender finde ich die Frage, ob wir sie qualitativ aufwerten können. Das ist eine Frage der Bildung. Wir sind in der Lage, aus Hunger und Durst die Freude an Gemeinschaft beim gemeinsamen Genuss von Essen und Trinken zu formen. Ebenso haben wir die Möglichkeit, die sogenannten sozialen Netze dafür zu nutzen, eine Kultur der Menschlichkeit und des Teilens zu stärken und wachsen zu lassen.

Andererseits vervielfacht sich im Internet auch der Hass. Wie kann eine aufgeklärte Gesellschaft dem begegnen?

Engelbrecht: Hass ist ein starker Impuls, der davon lebt, dass er sich in sich selbst einigelt. Wer einem anderen Menschen von Angesicht zu Angesicht gegenüber steht, muss sehr viel Kraft aufbringen oder er muss eine kranke oder über die Maßen verletzte Seele haben, wenn er seinen Hass aufrechterhalten will. Im Internet können wir anonym über andere sprechen, ohne dass uns jemand dafür zur Verantwortung ziehen kann. Dieser asoziale Aspekt ist ein guter Nährboden für Hass. Wenn wir also dem Hass im Internet begegnen wollen, müssten wir die virtuellen sozialen Netzwerke mit echten, altmodisch gesprochen „leiblichen“, Netzwerken verbinden. Außerdem helfen Humor, Güte und Gelassenheit.

In einer Großstadt wie Hamburg gibt es immer auch Verteilungskämpfe, etwa um Wohnraum, weil Teilen oft heißt, dass nicht genug für alle da ist. Gegen derlei kapitalistische Vorgänge kann keine Kirche der Welt ein Konzept haben, oder?

Engelbrecht: Die Aussage, es sei nicht genug für alle da, ist in meinen Augen Ausdruck einer Ideologie, die auf den Mangel setzt, weil das die Preise steigert. Es fehlt uns in der Welt und auch in Hamburg nicht an Geld oder Wohnraum oder Platz für Kinder oder was auch immer. Was uns fehlt, sind Fantasie, Mut und Umsetzungskraft, intelligente und wirkungsvolle Mechanismen der Vernetzung und Teilhabe zu installieren, die uns dazu bringen, physische und seelische Ressourcen zu entdecken, zu schaffen und zu teilen. Das ist ein Herzstück kirchlicher Arbeit. Das ist keine Frage der Machbarkeit. Die Frage ist vielmehr, ob wir nicht alles dafür geben wollen, dass auch unsere Kinder und Kindeskinder ein Leben in Freude und Würde leben können.

Welche Rolle spielen Teilhabe und Bürgerengagement in einer Stadt?

Engelbrecht: Eine demokratisch organisierte Stadt lebt von Teilhabe und Bürgerengagement. Staatliche Stellen und professionelle Träger können Rahmenbedingungen stellen und Kontinuität sichern. Das Leben und die Vielfalt entscheidet sich aber an der Kraft der Bürgergesellschaft. Das haben wir 1989 beim Fall der Mauer erlebt, das erleben wir in Hamburg täglich bei der Diskussion über die Zukunft unserer Stadt. Daran wird sich auch entscheiden, ob es uns gelingt, die Willkommenskultur für Flüchtlinge und ihre Integration erfolgreich ins Werk zu setzen.

Innerhalb der Akademie-Woche „Teilen“ gibt es eine Zukunftswerkstatt zum Thema „stadt – macht – olympia“. Was ist der Gedanke dahinter?

Engelbrecht: Für Olympia ist das Thema „Teilen“ zentral. Das Motto „Dabeisein ist alles“ beinhaltet das Versprechen: „Alle sind dabei.“ Dafür stehen auch die Paralympics. Für Hamburg aber geht es bei Olympia noch um viel mehr. Die Olympischen Spiele sind einige Wochen in der Stadt. Davor aber stehen wenigstens sieben Jahre bis 2024, in denen wir die neue Stadt auf dem Olympiagelände entwickeln mit der Frage: Was für eine Stadt ist das, die für die nächsten Jahrzehnte, wenn nicht gar Jahrhunderte entsteht? Wer wirkt mit, wie sind die Bürger in der Planung und in der Umsetzung beteiligt? Die Zukunftswerkstatt will diese Fragen angehen und einen Beitrag dazu leisten, Netzwerke zu schaffen und stärken.

Wo ist der Gewinn der Bürger, die sich am Projekt Olympia beteiligen?

Engelbrecht: Wer mitwirkt, kann die Kraft von Olympia nutzen, konkrete Ideen für die Stärkung von Teilhabe, Integration und Inklusion sowie Nachhaltigkeit mit Verve in die Stadtdiskussion einzubringen. Wir – als Bürger, als Kirchen – müssen Ankündigungen kritisch prüfen und uns im Falle einer Entscheidung für Hamburg für ihre Umsetzung engagieren. Frei nach dem Motto von 1989: „Wir sind das Volk!“

Geht es beim Teilen und Beteiligen eigentlich um Gewinn?

Engelbrecht: Ja. Das reicht von der Einsicht, dass weniger ganz oft mehr sein kann, bis zu der Erfahrung, dass Teilen von Ideen und Ressourcen uns nicht ärmer, sondern reicher machen kann. Diese Erfahrung teilt übrigens der Kapitalist mit dem Liebenden: Wer sein Geld für sich behält, anstatt Investition zu wagen, wird sein Geld nicht mehren. Und nur wer seine Liebe verschenkt, erlebt das Wunder der Liebe: Die Liebe schrumpft dann nicht, sondern sie wächst, und das nicht nur linear, sondern exponentiell und ohne Grenzen.

Evangelische Akademiewoche, Programm unter www.akademie-nordkirche.de; heute: „Was heißt eigentlich Gerechtigkeit“, philosophisches Streitgespräch mit Friedhelm Hengsbach, Jesuit, und Christian Schüle, Publizist, Thalia-Nachtasyl, 19 Uhr, Eintritt frei