Hamburg. Lydia Steier zeigt im Rahmen des Hamburger Theaterfestivals auf Kampnagel ihre Sicht auf das bewegende Oratorium.
Wie kann man als junger Mensch musikalisch gegen ein Elternhaus revoltieren, in dem Mama und Papa am liebsten CDs von Frank Zappa oder Blue Öyster Cult auflegen? Hip-Hop, Rap, Metal wären naheliegende Maßnahmen zur Befreiung vom Diktat der guten Rockmusik. Die Regisseurin Lydia Steier, in behüteten Verhältnissen als ältestes von vier Kindern in Hartford im US-Bundesstaat Connecticut aufgewachsen, suchte sich als junges Mädchen ein anderes Instrument zum Gegenschlag: Opern. Die lernte sie bei den Großeltern kennen.
Altes Europa: Die Eltern des Vaters entstammen einer Familie Wiener Juden, die 1938 vor den Nazis aus Österreich geflüchtet waren. Die der Mutter kamen aus der Ukraine und aus Prag. „Wenn ich meiner Großmutter mütterlicherseits von einer neuen Regiearbeit erzähle“, sagt Steier, „dann will sie immer als Erstes wissen, ob es auch eine traditionelle Inszenierung ist. Wenn nicht, wie zuletzt der ,Eugen Onegin’ in St. Gallen, mag sie kaum die Bilder davon anschauen. Aber ein bisschen stolz auf mich ist sie trotzdem, glaube ich.“
Erstmals ist Lydia Steier jetzt mit einem von ihr geschaffenen Musiktheater in Hamburg zu Gast: Im Rahmen des Hamburger Theaterfestivals wird heute und morgen ihre Bearbeitung von Händels Oratorium „Jephtha“ auf Kampnagel aufgeführt. Oratorien sind keine Opern, sie verhandeln meist Geistliches und werden nur selten in Szene gesetzt. Doch nachdem Steier, die seit 13 Jahren in Deutschland arbeitet, 2012 schon den „Saul“ von Händel derart überzeugend auf die Bühne gebracht hatte, dass man sie für den Faust-Theaterpreis nominierte, lud die Kammerakademie Potsdam sie ein Jahr später ein, für die Winteroper in Potsdam den „Jephtha“ zu inszenieren.
Die Strichfassung verzichtet auf manche schöne, aber arg lange Arie
Das Werk dauert eigentlich über drei Stunden; aber gar manche der vielen schönen Arien sind arg lang und erzählen wenig, und dann gab es in der Interimsspielstätte der Winteroper, der Friedenskirche zu Sanssouci, keine Toiletten und keinerlei Gastronomie.
So traf die Bitte, eine Strichfassung zu erstellen, bei der das Stück in handlichen zwei Stunden ohne Pause aufgeführt werden könnte, glücklich auf ein inhaltlich begründetes Kürzungsbedürfnis. „Beim ’Fliegenden Holländer’ würde sich so etwas verbieten“, sagt Steier. Aber Händels Oratorium scheint die Kürzung geradezu sensationell gut bekommen zu sein. Nach der Premiere in Potsdam wurde die Produktion von den Wiener Festwochen übernommen. Ursprünglich war das Stück für einen intimen Raum mit 300 Zuschauern konzipiert. In die K6 auf Kampnagel passen gut dreimal so viele. Bis gestern Mittag wusste Steier noch nicht, welche (Raum-)Lösung sie mit ihrem Team finden würde, um die Dichte der Erzählung im großen Saal zu erhalten.
Sie begreift „Jephtha“ auch als Lehrstück über die Hybris. Der Titelheld will die Israeliten von den Ammoniten befreien und verspricht Gott als Lohn für seinen Beistand, ihm den ersten Menschen zu opfern, der ihm nach dem Sieg über den Weg läuft. Tragischerweise ist das seine Tochter Iphis.
Steier hat die Geschichte in Lektionen unterteilt, die in einem Klassenraum spielen. Das Setting überzeugte die Kritiker, die musikalische Darbietung der Kammerakademie, des Chors und der Solisten rührte manche von ihnen zu Tränen. Bei der Premiere in Potsdam saß auch Placido Domingo im Publikum – Steier kennt ihn von gemeinsamer Arbeit in Los Angeles. „Er war entzückt“, sagt sie, ganz uneitel.
„Jephtha“ Di/Mi 13./14.10., jew. 19.30, Kampnagel (Bus 172, 173), Jarrestr. 20, Karten zu 17,- bis 77,- unter T. 270 949 49