Hamburg. Die Vorstellung Private Dancer auf Kampnagel stellt das „Publikum“ auf eine besondere Probe – ein Erfahrungsbericht.

„And aaaaaiaaaaiaaah will always love youhuhuhuuu“ – Whitney Houston heult um ihr Leben und ihre Liebe, und ich verharre in dramatischer Pause: Ein Arm weit nach vorne gestreckt, eine Hand am Herz. Eine Mischung aus Usain Bolts berühmter Siegerpose und einer Schnecke, die auf einer Schildkröte reitet. Hui! Und dann der gemessene Abgang zu den letzten Tönen. Majestätisches Schreiten hinter die Bühne. Das ganze Publikum applaudiert. Sich selber.

Eigentlich sollte der Besuch der Performance „Private Dancer“ im Rahmen des Internationalen Sommerfestivals auf Kampnagel nicht so enden. Angekündigt war sie als authentische Kurzfassung eines Tanztrainings, vorgeführt für jeweils einen einzigen Zuschauer. Genau: einen. In 20 Minuten schaut man zu, wie eine Tänzerin sich aufwärmt, Figuren übt, dann ein komplettes Lied – „Private Dancer“ von Tina Turner – tanzt und anschließend letzte Übungen zum Herunterkommen absolviert. Begleitet wird die komprimierte Übungseinheit von eingespielten Musikausschnitten und Anweisungen, Lob und Kritik, die 2015 auf Kamp­nagel am K3-Zentrum für Choreografie bei tatsächlichen Tanztrainings aufgezeichnet wurden. Realistische Bedingungen. Aber der Besuch einer „Private Dancer“-Aufführung ist intensiver, als es beim Lesen des Programmzettels erscheint.

Ich habe vor dem Betreten des „Private Dancer“-Saals die Wahl zwischen zwei Versionen, der fließenden, luftigen „Ballonné“ und der wuchtigen, erdnahen „Vulcano“. Ich wähle „Ballonné“, ziehe die Schuhe aus und betrete den Saal. Eine Bühne mit drei Stühlen, glatter, schwarzer Boden, ein Wandspiegel und ein Paravent, hinter dem Regina Rossi „Hallo“ ruft. Schüchtern antworte ich und habe keine Ahnung, was nun passieren wird. Ich soll mich flach auf den Boden legen. Entspannen. Deutsch-englisches Kauderwelsch aus der Tanzsprache vermischt sich mit dem Lied „The Hanging Tree“ von Jennifer Lawrence. Schräg, irgendwie legt sich Wärme über das Gesicht.

„Wie viel Balletterfahrung hast du?“, fragt Regina, verbiegt ihre nackten Füße und ich überlege, welches die bessere Antwort ist: „Keine“, oder „Ich war mal bei John Neumeiers ,Kameliendame‘ in der Staatsoper und habe immer an den falschen Stellen geklatscht.“ Ich entscheide mich für Version drei: „Ich bin der unbeweglichste Mensch, der dir je begegnen wird.“ „Komm, mach mit“, antwortet sie. Da ist sie hin, die Distanz zwischen Künstlerin und Zuschauer. Was ist noch Script, was ist spontan, improvisiert?

Wir stehen vor dem Spiegel. Ballettfiguren. Stimmenwirrwarr der Audiospur. Passé, Plié, Jeté. Arme so, Beine so. Es fällt schwer, sich auf das eigene Spiegelbild zu konzentrieren und gleichzeitig Reginas Figuren nachzuahmen. „Du machst das gut“, sagt Regina. Das steht sicher im Script! Denn ich habe die Haltung, das Körpergefühl und die Eleganz eines schmerbäuchigen deutschen Pauschalurlaubers, der in Badeschlappen und mit „Efes“-Bier in der Hand um eine Bauchtänzerin taumelt. Egal. Der Albumtitel „Bitte ziehen Sie durch“ von Deichkind war schon immer ein gutes rettendes Leitmotiv in merkwürdigen oder ungewohnten Situationen.

Wir laufen und drehen uns durch den Raum, Regina in einer Art „Flashdance“-Ekstase, ich als „lebende Lavalampe“ oder „Kung Fu Panda“, um mal belegte „Komplimente“ zu zitieren, die Frauen einem auf dem Dancefloor machen, wenn man kein Tanztalent hat. Und dann kann ich – endlich – in die Zuschauerperspektive wechseln, um eine Privatvorstellung einer Tina-Turner-Choreografie zu genießen. gemeinsamer „Cooldown“ mit Atemübungen schließt die Begegnung ab. Die letzten drei Minuten verbringt der Zuschauer alleine. Alle Konzentration und Anspannung fällt ab. Aber ein starker Bewegungsdrang bleibt.

Gleich im Anschluss darf ich das Ganze noch mal erleben, „Vulcano“ mit Tänzerin Dani Brown. Und ohne zu viel zu verraten: Es ist eine völlig andere Erfahrung. Und das ist der Grundgedanke der Künstlerischen Leiterinnen Greta Ganderath und Hannah Georgi, die das Konzept und die Dramaturgie von „Private Dancer“ entwickelt haben. In einer knappen halben Stunde verdichten sich Aufführung, Workshop und Sozialexperiment. Denn schon die ersten Testaufführungen vor der Premiere am gestrigen Mittwoch zeigten: Keine „Private Dancer“-Version gleicht einer anderen. Stellt der Zuschauer Fragen? Setzt er sich einfach die ganze Zeit auf einen der Stühle? Macht er mit? Ist er selber Balletttänzer? Herrscht Distanz oder Nähe? Was ist Dramaturgie und was ist Improvisation? Mit jeder der insgesamt 65 Aufführungen, die bis zum 8. August gezeigt werden, verschwimmen diese Grenzen neu, was natürlich nur Dani Brown und Regina Rossi erleben können. Eine sehr besondere, intensive Erfahrung. Denn es gibt keine anonyme, ferne Zuschauermenge. Nur den einen. Alle seine Emotionen, seine jeweilige Skepsis, Ablehnung, Begeisterung oder Belustigung sind unmittelbar.

„Private Dancer“ ist amüsant, lehrreich, zugleich anstrengend und entspannend für Körper und Geist. Und das Publikum war zumindest bei zwei Aufführungen: begeistert.

„Private Dancer“ Do 6.8. bis Sa 8.8., halbstündlich 16.00-22.30, Kampnagel K32 (Bus 172, 173),
Jarrestraße 20, Karten 5,-; T. 27 09 49 49; www.kampnagel.de