Hamburg. Die Sängerin belegte zwar den letzten Platz beim Eurovision Song Contest in Wien, hat aber nichts falsch gemacht.

Auf den ersten Blick – und zugegebenermaßen auch noch auf den zweiten – wirkt das deutsche Abschneiden beim 60. Eurovision Song Contest (ESC) am Wochenende desas­trös: Letzter Platz und kein einziger Punkt. Nicht einer. Doch kann man das Ergebnis Ann Sophie anlasten? War die Hamburgerin wirklich die schlechteste deutsche Kandidatin seit 50 Jahren, als Ulla Wiesner 1965 das Finale ohne einen Punkt beendete? Waren die 25 anderen Beiträge (auch die österreichische Band The Makemakes schloss ohne Punkte ab) wirklich so viel besser? Die kurze Antwort auf alle drei Fragen lautet: Nein. Die lange ebenfalls.

Ann Sophie hat das gemacht, für das sie nach Wien geschickt worden ist: Sie hat „Black Smoke“, den für sie von Michael Harwood, Ella McMahon und Tonino Speciale geschriebenen Popsong mit Soulanklängen vorgetragen, hat sich keine Schnitzer geleistet, weder im Finale noch davor. Und ihre Niederlage mit Humor genommen: Die Zeile „We are the Heroes of our Time“ aus dem schwedischen Siegersong dichtete sie auf ihrer Facebook-Seite um in „We are the Zeroes of our Time.“

Eurovision Song Contest in Wien

Die Hamburgerin Ann Sophie zeigtedennoch einen guten Auftritt
Die Hamburgerin Ann Sophie zeigtedennoch einen guten Auftritt © dpa | Julian Stratenschulte
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Hört man sich so manchen anderen Beitrag an, den Deutschland schon zum ESC geschickt hat, schneidet Ann Sophie immer noch ziemlich gut ab: Hinter dem Kirmesbuden-Dance von Cas­cada (2013, 18 Punkte, Platz 21) oder der merkwürdigen Burlesque-Performance „Miss Kiss Kiss Bang“, mit dem Alex Christensen das europäische Publikum 2009 zu beglücken suchte (35 Punkte, Platz 20), braucht sie sich auf jeden Fall nicht zu verstecken. Genauso wenig wie hinter ihren unmittelbaren Konkurrenten im Tabellenkeller dieses Jahres, den Österreichern, Franzosen und Briten. Nein, eigentlich liegt „Black Smoke“ eher auf einer Wellenlänge mit Roman Lobs „Standing Still“ (2012, 110 Punkte, Platz 8) und Lena, die 2010 gewann (Sie erinnern sich).

Ja, aber warum zum Geier ist sie dann Letzte geworden, fragen sich wohl nicht nur die 8,11 Millionen Menschen, die den Wettbewerb am Sonnabend in Deutschland vor dem Fernseher verfolgten? Das hängt eben nicht nur mit ihrer eigenen Performance, sondern auch mit dem Umfeld, in dem sie sich präsentiert hat, zusammen. Der ESC 2015 kannte nur sehr wenige Favoriten und noch weniger musikalische Totalausfälle.

Selbst die sonst immer gern genommenen Skurrilitäten suchte man nahezu vergebens. Stattdessen wurde man mit einem – trotz aller individuellen stilistischen Unterschiede – sehr großen, ausgeglichenen Mittelfeld konfrontiert. Zusammen mit dem Abstimmungsmodus des ESC lässt sich so das Ergebnis größtenteils herleiten.

Punkte bekommen aus jedem der 40 abstimmenden Länder nur die zehn Nationen, die im Mittel aus Jury- und Telefonwertung am besten abschneiden. Und für Ann Sophie blieb in mehreren Fällen nur der 11., 14. oder 16. Platz. Oder Jury und Publikum waren sich eher uneins: So wählte beispielsweise die belgische Jury „Black Smoke“ auf Rang fünf, bei den Anrufern reichte es aber nur für Rang 19. Das umgekehrte Spiel in Albanien: Dort wurde Ann Sophie von der Jury nur auf dem 16., vom Publikum aber auf dem siebten Platz gesehen.

Doch selbst wer regelmäßig Punkte aus den verschiedenen Ländern bekam, durfte sich keine allzu großen Hoffnungen auf eine gute Platzierung machen, wenn er nicht zu den vier Erstplatzierten Schweden, Russland, Italien und Belgien gehörte. Denn allein dieses Quartett vereinte die Hälfte aller insgesamt vergebenen Punkte auf sich, auf die Top-Ten-Nationen (siehe Kasten) entfielen mehr als vier Fünftel aller Punkte.

Zum Vergleich: Beim Sieg von Lena Meyer-Landruth 2010 mit „Satellite“ hatten die vier bestplatzierten Nationen zusammen ein knappes Drittel der Punkte, die ersten zehn Starter beanspruchten etwas mehr als zwei Drittel der Punkte.

Möglicherweise sollte Deutschland sich im Mai 2016 mal wieder etwas trauen und jemand ganz Modernes in den Ring schicken: Belgien und Lettland, die beiden einzigen Nationen, deren Songs klar erkennbar im 21. Jahrhundert geschrieben wurden, belegten die Plätze vier und sechs. Gut, wenn man gewinnen will, braucht man vielleicht doch einfach eine Partyhymne wie Måns Zelmerlöws Gewinner-Song „Heroes“. Das hat ja für Schweden auch schon 2012 funktioniert, als Loreena ihr „Euphoria“ zum Sieg trällerte.

Augenscheinlich kann man aber selbst mit einem absoluten ESC-Nostalgielied wie Polina Gagarinas zweitplatziertem „A Million Voices“ immer noch ein exzellentes Ergebnis einstreichen: Eine große Ballade, vorgetragen in wallender Robe vor dramatischer Kulisse, bringt die Anruferherzen immer noch zum Schmelzen – selbst ohne Conchita-Vollbart. Andererseits haben auch schon mal Hardrocker mit Latexmasken (Lordi aus Finnland im Jahr 2006) gewonnen.

Wahrscheinlich gilt für den Euro­vision Song Contest einfach die alte Grundannahme aus dem Fußball: Der Pokal hat eigene Regeln.