Hamburg. Die Rolf-Mares-Preisträgerin spielt im Theater Kontraste Angela Merkel. Ihre bisher größte und wohl auch schwierigste Rolle.

Ein rosafarbener Blazer, schwarze Hose und schwarze Schuhe, für Angela Merkel ist das Arbeitskleidung. Für Kerstin Hilbig dieser Tage auch. Die Schauspielerin spricht über „das Modell Europa“ oder „das System“ – in stets gleichem monotonen Tonfall, mit herunterhängenden Mundwinkeln, formt mit Daumen und Zeigefingern die schon typische Raute der Kanzlerin. Es fällt als Betrachter schwer, beim kurzen Einblick in die Proben nicht zu lachen. Zumal Hilbig hier, im kleinen Saal des Winterhuder Fährhauses, von Kollegen umgeben ist, die den Vizekanzler Sigmar Gabriel, den bayerischen Regenten Horst Seehofer, Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen und einen Berater bei einer Gruppentherapie der Großen Koalition verkörpern. Und „Mutti“ mittendrin.

Die gleichnamige groteske Komödie der Autorinnen Juli Zeh und Charlotte Roos, die am Donnerstag im Theater Kontraste Premiere hat, spielt während der Fußball-WM 2014 und beschert Kerstin Hilbig ihre bisher größte, indes wohl auch schwierigste Rolle. Inwieweit sie vom Angebot des Winterhuder Intendanten Michael Lang und Regisseurin Ayla Yeginer überrascht war? „Total“, sagt Kerstin Hilbig. „Ich hab mich selbst eher als Ursula von der Leyen gesehen.“ Ihr ähnelt die Schauspielerin mit den langen blonden Haaren und der schlanken, fast zierlichen Figur – nicht aber Angela Merkel.

In der Hamburger Theaterszene ist sie seit mehr als 20 Jahren bekannt

Es ist bereits später Nachmittag. Auch „Mutti“ – ein Spitzname der Merkel einst von älteren CDU/CSU-Politikern während der ersten „Groko“ verpasst wurde – muss mal was essen. Beim Gespräch in der Eppendorfer Trattoria Campo trägt Kerstin Hilbig einen roten Pullover und eine legere weiße Hose. Wirt Franco begrüßt sie, und auch in der Hamburger Theaterszene ist Kerstin Hilbig seit mehr als 20 Jahren bekannt, nur meist nicht in vorderster Linie präsent. Fast scheint es, als müsse man bei ihr genauer hingucken, um ungeahnte Facetten zu entdecken – ähnlich wie bei Frau Merkel. Denn nicht bloß am Winterhuder Fährhaus schätzen sie Hilbigs präzise und handwerklich gelungene Arbeit.

Der Rolf-Mares-Preis in der Kategorie „Herausragende Darstellerin“ als Ehefrau Fanny in der Sozialsatire „Der Hässliche“ war für Kerstin Hilbig im Vorjahr eine überraschende Anerkennung ihrer langjährigen Tätigkeit. Im Theater Kontraste hatte sie schon 2009 als drangsaliertes Opfer in der Familienfarce „Leas Tag“ überzeugt, später dort auch in „Die Firma dankt“ als böse Personaltrainerin. Und als Klassenlehrerin, die von den Eltern abgesetzt werden soll, war sie im Dauerbrenner „Frau Müller muss weg“ 2014/15 als dritte Hauptdarstellerin gewiss nicht die schlechteste.

Dazu kamen seit Mitte der 90er zahlreiche Engagements wie in „Neue Vahr Süd“ oder „Clockwork Orange“ am Altonaer Theater unter Intendant Axel Schneider, zuletzt gleich mehrere Rollen in der überaus erfolgreichen Hitler- und Medien-Satire „Er ist wieder da“. Kristian Bader spielt darin den wiederauferstandenen Diktator und Massenmörder. Kerstin Hilbig sieht eine andere Herausforderung: „Ich muss eine real existierende Person spielen.“ Noch dazu eine, die einem in den Medien tagtäglich begegnet.

Um der Aufgabe gerecht zu werden, hat Kerstin Hilbig auch das Buch „Angela Merkel – Die Zauder-Künstlerin“ des früheren „Bild“- und jetzigen „Spiegel“-Hauptstadt-Korrespondenten Nikolaus Blome gelesen. „Je mehr ich mich mit der Person beschäftigt habe, desto mehr fasziniert mich diese Frau“, sagt Kerstin Hilbig. Sie glaubt erkannt zu haben: „Merkel ist über die Zeit lockerer geworden, sie spricht auch nicht mehr so monoton.“ Das her­auszuarbeiten bringe Spaß, meint Hilbig. Weil an der Stelle im Stück keine Regieanweisung stehe, lacht sie als Angela Merkel auch mal über den Therapeuten. Die disziplinierte Darstellerin kann also auch albern sein.

Schon in der Schule, nach der 9. Klasse, stand für Kerstin Hilbig fest, dass sie Schauspielerin werden möchte – sie hatte es in einem „Neigungskursus Schauspiel“ gemerkt. Nachdem sie das legendäre Schauspielstudio Margot Höpfner besucht hatte, verließ Hilbig für fünf Jahre ihre Geburtsstadt Hamburg. Erst neulich hat sie den Vertrag für ihr erstes festes Engagement am Jungen Theater Bonn (mit 13. Monatsgehalt!) wiedergefunden, erzählt sie. Fast paradiesische Zustände waren das in den 80ern. Nach drei Jahren und der Zeit am Theater der Altstadt Stuttgart überwog die Sehnsucht, nach Hamburg zurückzukehren – seitdem immer als freischaffende Schauspielerin.

Die besten Jahre, sie stehen Kerstin Hilbig womöglich noch bevor

Seit vier Jahren lehrt Kerstin Hilbig regelmäßig auch als Dozentin für Phonetik und Rezitation an einer Hamburger Schauspielschule. „Das sichert die Miete“, räumt sie ein. Sie ist dankbar für das, was sie hat, und wirkt geerdet, bei dem, wie sie ist. Nach dem Blick auf die Liste mit ihrer Theatervita setzt sie am Tisch die Brille ab: „Ich hab doch schon einige große Rollen gespielt“, sinniert sie. Und die besten Jahre, sie stehen Kerstin Hilbig womöglich noch bevor.

Im vergangenen Jahr ist ihre Tochter, jetzt 23, ausgezogen und nach Berlin gegangen, und sie selbst hat den Rolf-Mares-Preis bekommen. Beides fühlte sich gut an. „Ich bin mit Leib und Seele Mutter. Und ich bin mit Leib und Seele Schauspielerin“, stellt die 54-Jährige fest. „Vielleicht mache ich ja noch eine richtige Alterskarriere“, sagt die „Mutti“-Darstellerin und lächelt. „Den Satz ,Das kann ich nicht’ gibt es für mich nicht mehr.“ Auch Angela Merkel, inzwischen 60 Jahre alt, mit deren Person sie sich in den vergangenen Wochen so intensiv beschäftigt hat, ist schließlich erst mit Mitte 50 so richtig groß herausgekommen.

Kerstin Hilbig hat ihre gelbe, leicht abgewetzte Lederjacke übergeworfen, sagt Tschüs und macht sich in rot-weißen Turnschuhen auf den Nachhauseweg. „Mutti“ hat Feierabend – und ­Ausdauer.

„Mutti“ Premiere Do 7.5., 19.30, bis 15.8., Theater Kontraste im Winterhuder Fährhaus, Karten unter
T. 48 06 80 80; www.theater-kontraste.de