Hamburg. Was hat die Neubesetzung der Berliner Volksbühnen-Intendanz mit Hamburg zu tun? Amelie Deuflhard und Joachim Lux im Streitgespräch.

Ja, in Berlin geht es deftiger zu als an der Elbe. Da nennt ein Theatermann einen Politiker schon mal ein „leeres Hemd“, schon ist die Debatte in vollem Gange. Kulturstaatssekretär Tim Renner hat den Vertrag des renommierten Volksbühnen-Chefs Frank Castorf nicht verlängert und stattdessen Chris Dercon, derzeit Direktor an der Tate Modern in London, als Nachfolger bestellt. Claus Peymann (Berliner Ensemble), bislang nicht als Castorf-Freund aufgefallen, gab daraufhin ein Interview, in dem er Renner jegliche Kompetenz absprach („leeres Hemd“), auch Intendanten wie Jürgen Flimm und Ulrich Khuon warnten, als gelte es den Untergang des Abendlandes zu verhindern. Vergeblich. Dercon übernimmt mit Komplizen wie dem Choreografen Boris Charmatz und dem Allround-Intellektuellen Alexander Kluge 2017 die Volksbühne.

Auch Thalia-Intendant Joachim Lux hatte sich in einem offenen Brief gegen diese Entscheidung gewandt. Kampnagel-Chefin Amelie Deuflhard hingegen begrüßte die Personalie ausdrücklich. Ein Hamburger Streitgespräch über Berliner Zustände.

Hamburger Abendblatt: Was können wir in Hamburg vom Berliner Theaterstreit lernen? Hat der etwas mit uns zu tun?

Joachim Lux: In Hamburg sind die Verhältnisse sinnvoll geordnet. Hier gibt es mit dem Schauspielhaus und dem Thalia zwei große Staatstheater, die Ensemble-, Literatur- und Repertoiretheater machen. Dann gibt es die Oper als musiktheatrale Ausrichtung desselben Gedankens und Kampnagel als freies Produktionshaus. Wenn man da streitet, geht es ums Geld. Ansonsten herrscht friedliche Koexistenz.

Amelie Deuflhard: Im Prinzip ist das eine nationale Debatte. Ich fand es auffällig, dass sich nur Männer eingemischt haben. In einem sehr veränderungsfeindlichen Kampfdiskurs. Inter­essant ist, dass sich viele Hamburger oder Ex-Hamburger zu Wort gemeldet haben: Flimm, Khuon, Kusej, der hier viel inszeniert hat, und du, Joachim.

Lux: Mit Mann und Frau hat das nichts zu tun, nicht einmal mit Jung und Alt. Und auch nicht mit Veränderungsfeindlichkeit. Es ist eine inhaltliche Debatte und eine Gelddebatte. Der Kuchen ist da, er hat eine endliche Größe, und am Ende entscheidet man bloß, von wem er gegessen wird.

Ist es aus Ihrer Sicht also gut oder schlecht oder egal, dass Chris Dercon die Volksbühne übernehmen wird?

Lux: Dass in Berlin jemand wie Dercon, der ja eine herausragende Persönlichkeit ist, die Möglichkeit bekommt, ein freies Produktionshaus zu leiten, ist vollkommen in Ordnung. Eine Kata­s­trophe ist, dass das Haus der Berliner Festspiele und das Schillertheater meist leer stehen, da hätte man zwei Orte gehabt. An der Volksbühne aber wird ein bestimmter historischer Geist gelebt. Er hat mit den frühen Avantgarden der Kunst zu tun und ist Brücke zum immer weiter verschwindenden Osten. Berlin ist als Stadt Brücke zwischen Ost und West. Es ist wichtig, dass Institutionen eine Tradition leben, die ihrer Stadt entspricht. In Hamburg ist das gegeben.

Deuflhard: Tatsächlich ist Hamburg im Vergleich zu anderen Städten eine Ausnahme, weil Kampnagel so ein großes Haus ist. Es rumort aber seit Langem die Forderung, mal eines dieser Stadttheater als Produktionsstätte für freies Theater freizugeben, um zu sehen, was dann möglich wäre. Dass es jetzt ausgerechnet die Volksbühne ist, war ein unerwarteter Vorschlag von Tim Renner.

Sie, Frau Deuflhard, haben es begrüßt, dass in Berlin alles einmal ordentlich durchgerüttelt wird. Klingt fast sehnsüchtig. Täte das hier auch mal gut?

Deuflhard: Die Situation hier ist anders. Und in Berlin gibt es genug Publikum für solch ein internationales Programm. In Mitte spricht ja jeder nur noch Englisch! Außerdem: Das große Verdienst von Castorf war, dass er nicht darauf geschaut hat, ob er seinen Laden füllt. Auch Berlin hat Jahre gebraucht, bis ein Marthaler-Stück halbwegs voll war. Schlingensief war erst voll, als er schon krank war. In der Volksbühne wird nicht marktkonform gearbeitet.

Lux: Die Volksbühne ist das Stadttheater, das am entschiedensten eine eigene Ästhetik formuliert. Mit Erfolg. Genau das hätte ich schützenswert gefunden.

Ist nicht die revolutionäre Bühne am ehesten die, mit der man dann auch eine Revolution veranstalten kann?

Deuflhard: Eben! Dass ich die Personalie Dercon spannend finde, ist auch kein Statement gegen Castorf. Dercon hat die Museen für andere, performative Kunstformen geöffnet. Castorf hat das Theater geöffnet, und zwar sehr radikal.

Lux: Was heißt denn Revolution? Zugunsten von was? Berlin tut gerade mal wieder so, als sei es die Hauptstadt Europas. Haben die sie nicht alle? Berlin als Nabel der Welt, nicht auszuhalten! Dieses Berlin hat auch eine eigene Geschichte. Sinnvoll wäre, diese Geschichte als gelebte freche Gegenwart und nicht als Mauermuseum zu bewahren. Es ist verwerflich, das einfach aufzulösen.

Deuflhard: Die Tendenz in Berlin ist, die Ostgeschichte möglichst unsichtbar zu machen. Castorf hat das „OST“ propagandistisch auf seinem Theater stehen. Andererseits, er hatte das Haus jetzt 25 Jahre, das ist eine Ära, das ist dann vielleicht auch mal okay. Es wird inhaltlich sicher spannend zu sehen, wie ein Museumsmann Theater denkt.

Besteht die Gefahr, dass die Internationalisierung – überspitzt gesagt – zur Starbuckisierung des Theaters führen kann? Schmeckt überall gut, schmeckt aber auch überall gleich?

Deuflhard: Das ist ja definitiv nicht so. Aber klar, wer berühmt ist, tritt weltweit auf. Interessanter finde ich: Was ist da an künstlerischem Potenzial, wenn man die Struktur des Stadttheaters nutzt? Was passiert, wenn ein Choreograf wie Boris Charmatz die Werkstätten der Volksbühne betritt? Vielleicht nix! Vielleicht entstehen aber neue hy­bride Theaterformen.

Lux: Einzigartigkeit entsteht durch Menschen. In der freien Arbeit sind es leere Häuser, die man mit Ideen und Menschen füllt. Bei mir ist es andersherum: Meine Institution ist bereits gefüllt. Mit einem Ensemble. Welche Freiheit will ich denn? Jedenfalls nicht, dass sich das NDR-Sinfonieorchester auflöst zugunsten von sich immer wieder neu zusammenfindenden Musikern. Oder dass meine Zeitung nicht mehr aus einer Redaktion besteht, sondern aus immer neu zusammengewürfelten freien Schreibern. Künstlerisch ist die Innovationskraft frei produzierter Stücke genauso groß oder klein wie die des Stadttheaters. Beide produzieren marktgängig. Die einen für den lokalen, die anderen für den globalen Markt. Das ist so.

Deuflhard: Da widerspreche ich heftig! Peter Brook, Bob Wilson, Pina Bausch, Boris Charmatz – immer wieder kamen neue und bahnbrechende Ästhetiken aus der freien Szene, die sich am Stadttheater nicht hätten durchsetzen können, aber dann vom Stadttheater gern übernommen werden ...

Lux: Unsinn! Unsinn!

Deuflhard: ... und alle, auch du, Joachim, sind extrem scharf darauf, diese Leute irgendwann auch für eigene Projekte zu holen! Am Donnerstag habt Ihr Premiere mit Tiit Ojasoo und Ene-Liis Semper, die sind aus der Freien Szene!

Lux: Die beiden haben in Tallinn ein staatlich subventioniertes Ensembletheater! Das Klischee von der Innovation der Szene, auf die das Stadttheater draufspringt, ist einfach falsch.

Deuflhard: Die neuen Impulse kommen nun nicht gerade vom Stadttheater. Mein Punkt war, dass viele Freie nicht marktkonform, sondern besonders marktunförmig arbeiten.

Lux: Diese Debatte will ich mit dir gar nicht haben. Gleichförmigkeit und Moden gibt es in beiden Theatersystemen.

Ist eine Entscheidung wie in Berlin richtungsweisend auch in dem Sinne, dass sich Häuser wie das Thalia künftig auch Performer, Videokünstler und Tänzer ins Ensemble holen könnten?

Lux: Das fände ich Quatsch. Auch wenn wir während eines Festivals wie den Lessingtagen Überschneidungen mit Kampnagel haben, dürfen wir nicht so tun, als wären wir Kampnagel.

Deuflhard: Seid ihr auch nicht. Wichtig ist mir: Ich arbeite nicht mit einem Ensemble, sondern mit zig Ensembles.

Lux: Jeder sollte seine Aufgabe wahrnehmen. Unsere ist beispielsweise, um jetzt ganz spießig zu klingen, auch die der Bewahrung des literarischen Erbes – vergleichbar einem Museum. Ein hohes Gut. Andererseits kann ich nicht nur Picasso im Museum zeigen, die modernen Künste müssen sich auch entwickeln. Haben wir zu viel Erbe oder zu wenig, das könnte eine Frage sein.

Deuflhard: Auch ich schätze unser kulturelles Erbe, aber wir tun zu wenig für die Neuentwicklung. Es gibt nirgends auf der Welt eine so reichhaltig ausgestattete Theaterstruktur wie bei uns – da ist für wenig anderes noch Geld übrig. Es geht immer um Verteilung. Und am Ende dann auch um die Frage: Was ist interessanter?