Hamburg. Jubel für eine durchaus kurzweilige, aber auch etwas belanglose Inszenierung von „Die Physiker“ am Schauspielhaus.
Ob es wirklich eine gute Wahl war, Friedrich Dürrenmatts Stück „Die Physiker“ auf den Spielplan des Deutschen Schauspielhauses zu nehmen, bleibt auch nach diesem Abend, der sich kurz und kurzweilig, streckenweise aber auch rätselhaft, belanglos und etwas gaga präsentierte, offen. Gaga vielleicht schon deshalb, weil das von Sebastian Kreyer inszenierte Stück in einem Irrenhaus spielt. Dürrenmatt schrieb es Anfang der 60er-Jahre vor dem Hintergrund des Kalten Krieges und der Angst vor einem Atomkrieg. Da ist das Irrenhaus keine poetische Metapher, sondern die Endstation einer realen Entwicklung, nach der die Wissenschaft und ihre Erkenntnisse die Welt zerstören werden.
Heute, da man mehr Angst vor Überwachung, sozialer Kontrolle und multinationalen Großkonzernen hat – angesichts ganz realer Kriege vielleicht ein bisschen undifferenziert – heißt es, politisch korrekt, auch nicht mehr Irrenhaus, sondern Psychiatrische Anstalt. Aber das ist ein anderes Thema. Nach Dürrenmatts Dramentheorie ist eine Geschichte dann zu Ende gedacht, wenn sie ihre schlimmstmögliche Wendung genommen hat. Nun, das ist bei dieser Inszenierung nicht der Fall. Der Abend ist unterhaltsam und bis auf eine Ausnahme gut gespielt. Die Weltformel des Theaters, frei nach der Weltformel, die einer der Physiker im Stück gefunden hat, hat Regisseur Kreyer allerdings nicht gefunden.
In einer privaten Irrenanstalt leben drei Physiker. Der eine hält sich für Newton (Paul Herwig), der andere für Einstein (Yorck Dippe), der dritte heißt Möbius (Markus John) und spielt den Irren, weil er die Weltformel besitzt, die das Ende der Menschheit bedeuten würde, wenn sie bekannt und genutzt würde. Ein Inspektor untersucht einen Mord an einer Krankenschwester, der in der Anstalt verübt wurde. Von Einstein. Zuvor hat auch Newton eine Krankenschwester ermordet. Dürrenmatts Komödie ist ein Gedankenspiel. In einer künstlichen Welt. Komik und blankes Grauen stehen einander gegenüber. Auch Möbius wird noch eine Krankenschwester erdrosseln. Alle drei bringen ihre Wärterinnen um, weil sie sich durchschaut fühlen. Denn irre sind sie nicht.
Störend wirkt sich anfangs die hölzerne Spielweise des Inspektors (Maik Solbach) aus. Er latscht herum wie im Bauerntheater. Dieser erste Teil des Zweiakters zieht sich ein bisschen. Auch wenn zwischendrin gekalauert wird. Möbius’ Ex (Sachiko Hara) beispielsweise bringt ihm Fotos seiner drei Söhne. Und zeigt ihm Spielkarten, drei Buben. Worauf er antwortet: „Mit drei spielt vier“. Da lachen nicht nur die Skatbrüder. Sie sagt dann noch, ihr neuer Mann, ein Missionar, habe eine „Stellung auf den Marianen angenommen“. „Ah, eine Missionarsstellung“ antwortet Möbius, was nahe liegt. Paul Herwigs Newton zuckt unentwegt mit Augen und Gesicht, Yorck Dippe geigt als Einstein im ersten Stock und streckt immer mal wieder die Zunge raus. Willkommen im Irrenhaus! Möbius erscheint ständig der König Salomo und irgendwann singt er mit seinen Kollegen das „Salomon-Lied“ aus Brechts „Mutter Courage“, in dem es heißt: „Ihr saht den weisen Salomon, Ihr wisst, was aus ihm wurd.“
Die Geschichte ist nicht wirklich fesselnd. Allerdings hat Thomas Dreissigacker ein schönes Bühnenbild gebaut, ein weißes Haus mit Zimmern und Stufen, auf denen Patienten und Personal herumklettern und Unsinn machen. Sehr exzentrisch benehmen sich alle (darunter auch Ute Hannig und Karoline Bär als Krankenschwestern). Das Haus dreht sich, dazu ertönt Kriminalmusik oder Waberndes, wie früher im Kino, wenn was Unbekanntes nahte. Oberärztin Mathilde von Zahnd (Anja Lais) tritt gern an die Rampe und singt zu Céline Dion. Am Bühnenrand steht ein Fotokopierer. Kleidung und Interieur sind ganz im 60er-Jahre-Stil (Kostüme: Maria Roers).
Halb ist der Abend kabarettistisch wie ein Irrenwitz, halb ist er Krimi und ein bisschen bemüht. Auch die Aufführung ist halb und halb. Denn im zweiten Teil, als die drei irren Physiker zugeben, dass sie alle nur etwas vorgetäuscht haben, wird’s wirklich komisch. Einstein ist der Ost-Agent, der sächselt und Möbius entführen will. Aber das will Newton auch. Zu Krimimusik jagen sie einander wie in einem Slapstick, finden hinter Wänden und unter Stühlen immerzu neue Pistolen. Wir halten ihn „in Schach“, ruft Einstein erleichtert. Zuvor waren ihm 20 bis 40 andere Namen von Spielen eingefallen, nur Schach nicht. Doch am Ende sind sie wirklich platt: „Wir sind mit unserer Wissenschaft an die Grenze gestoßen“, sagt Möbius. Aber Oberärztin von Zahnd, die bei Anja Lais von der Fürsorglichen zur Exzentrikerin mutiert, hat sie alle ausgetrickst. Der Kopierer am Bühnenrand kam ihr zu Hilfe. Heute, so lernen wir, gewinnen nicht mehr die kalten Krieger, sondern nur noch die Großkonzerne. Großer Jubel.
Die Physiker am Schauspielhaus, nä. Vorstellungen am 29.4. und 2.5., jew. 20 Uhr, Tel. 248713