Hamburg. Wer Bücher liest, tut seiner Seele etwas Gutes. Denn die Wirkung der Literatur ist wundersam, nicht nur am heutigen Welttag des Buches.

Es gibt Bibliophile. Das sind Leute, die Bücher lieben – wer kennt sie nicht? Viele von uns gehören selbst dazu. Jeder fünfte Deutsche liest gern und viel, behauptet die Statistik. „Bibliophilie“ ist ein schönes, wie viele kluge Begriffe aus dem Griechischen stammendes Wort. Da gibt es noch andere, die aber eher Anlass zur Besorgnis geben. Biblioklasten etwa zerstören gern Bücher. Bibliophage dagegen essen sie mit Vorliebe. Bibliophibianie beschreibt die Lust, in Bücherberge abzutauchen. Es gibt auch, wie eine Ausstellung in Zürich einmal gezeigt hat, buchstäblich Süchtige: Biblioholiker heißen die.

Und weil so interessant ist, was Menschen und Bücher miteinander verbindet, hier noch ein paar Details zur Geschichte der „Bibliomanie“: Diesen Begriff für den „Bücherwahn“ erfand der Pariser Arzt Guy Patin. Einige Zeit später kursierte dank der Erfindung eines britischen Schriftstellers sogar das Wort von der Buchbazille, des sogenannten „bacillus librorum“. Und es soll sogar Menschen gegeben haben, die die Buchstabenbedrohung ernst nahmen. Ja, es gab Zeiten, in denen um die Volksgesundheit gefürchtet wurde: Romane, geiferte der Theologe Gotthard Heidegger, „setzen den Menschen in ein Schwitzbad der Passionen“.

Bibliophile denken, dass sie die Summe der Bücher sind, die sie gelesen haben

Es war längst nicht immer so, dass Literatur einen guten Ruf hatte – und nicht nur, weil man im 17. Jahrhundert vornehmlich Frauen davon abhalten wollte, in den Fantasiewelten von Romanen leidenschaftlich die Gefühlsabenteuer anderer mitzuerleben und darüber die Hausarbeit zu vergessen.

Die Leselobby hat sich über die Jahrhunderte jedoch als deutlich stärker erwiesen. Ganz einfach, weil das Buch ein Erfolgsprodukt ist, ein Evergreen und Dauerbrenner. Wir lassen uns von Büchern in fremde Welten entführen, in die wir sonst keinen Fuß hineinsetzen, reinigen uns von den Leidenschaften (Katharsis!), wir bilden uns und lassen uns unterhalten. Wir lernen Empathie und Menschenkenntnis, wir erfahren, was die Welt im Innersten zusammen hält – und wir verarzten, wenn wir lesen, die Wunden, die das Leben uns geschlagen hat.

Denn nicht nur für die Schriftsteller selbst ist die Literatur die beste Therapie – ihre wundersame Wirkung entfalten Bücher auch auf Leser. „Lesen als Medizin“ (Verlag Rogner & Bernhard) heißt deswegen das enthusiastische Buch der begeisterten Leserin Andrea Gerk. Es will von all den frühen Warnern und Mahnern, von all den Bücherfressern und Bücherverdam­mern nicht viel wissen – und ist als Buch, das von Büchern schwärmt, der beste Anwalt für die Literatur.

Überhaupt ist es auffällig, wie selbstreferenziell die Sache mit den Büchern oft ist. Anders ausgedrückt: Wie gern Autoren darüber schreiben, was sie gelesen haben. Vielleicht, weil die Bibliophilen ohnehin davon ausgehen, dass sie als Menschen die Summe der Bücher sind, die sie gelesen haben. Die Amerikanerin Nina Sankovitch schrieb in ihrem Blog (der als Buch erschien: „Tolstoi und der lila Sessel“) über ihre Romanlektüre, vor allem aber darüber, wie ihr die Weltliteratur über den Tod der Schwester hinweghalf.

Es ist ein klug strukturiertes Plädoyer für die emotionale Kraft der Bücher, das die Literaturkennerin Gerk in „Lesen als Medizin“ entfaltet. Auch längst Bekanntes oder Argumente, die auf der Hand liegen, liest man im Gesamtzusammenhang noch einmal gern: dass Literatur, wie jede Kunst, „verborgene Regionen unseres Gefühlslebens berühren und verdrängte Emotionen ins Bewusstsein treten lasse“ etwa. Aber interessant wird es doch besonders dann, wenn praktische Anwendungen in den Blick rücken. Es ist nämlich nicht so, dass Preziosen der deutschen Literaturgeschichte wie der Gedichtband „Doktor Erich Kästners Lyrische Hausapotheke“ keine Entsprechung in der Wirklichkeit hätten. Im Gegenteil: Bücher werden wirklich in der Praxis angewandt.

Romane werden oft in der Psychotherapie eingesetzt

Und so ist die Gerks Rundschau auf all die Überzeugungsleser, die überall auf der Welt Bücher einsetzen, um Menschen zu heilen oder sie zu besseren Mitgliedern der Gesellschaft zu machen, der vielleicht beste Weg, der „Lesemedizin“ das Wort zu reden. Da ist zum Beispiel die US-amerikanische Ärztin Rita Charon, die nicht nur einen Doktor in Medizin, sondern auch einen in Literaturwissenschaft hat. Sie bringt anderen Ärzten bei, in den Krankheitsgeschichten ihrer Patienten wie in Büchern zu lesen – und dadurch Kenntnisse zu erlangen. Ihr Projekt heißt „Narrative Medicine“ und verdeutlicht vor allem, dass der Arzt durch Zuhören oft mehr erfährt als durch die Daten eines großen Blutbilds.

In Brasilien gibt es für Häftlinge eine Haftverkürzung für jedes Buch, das sie gelesen haben. Könnte es eine bessere Motivation geben? Zugrunde liegt dieser Anreizsetzung der Gedanke, dass Delinquenten mit jedem Buch mehr dazu in der Lage sind, sich selbst und ihr Tun in Frage zu stellen.

Außerdem ist die Lesebegeisterung schlicht ein Glücksspender; auch, wenn sie geteilt wird. Das erfährt Gerk beim Besuch eines Joyce-Lesezirkels in der Schweiz. Von den Beispielen, die sie aufführt, mag aber das der dänischen Autorin Janne Teller („Nichts“) als beweiskräftigstes dienen. In ihrer Eigenschaft als UN-Konfliktberaterin ließ sie sich von den schlimmen Erfahrungen afrikanischer Kriege so deprimieren, dass ihr nur Lese-Sessions wieder ins Gleichgewicht halfen: „Wenn ich heute zurückblicke, war es, als seien meine Lebensgeister schwer unterernährt gewesen und als hätte ich, um mich zu erholen, zuerst das unentbehrlichste Nahrungsmittel von allen erhalten“.

Dass Romane außerdem in der psychotherapeutischen Praxis eingesetzt werden, vermag nicht zu überraschen – weil Lesen eigene, bislang vielleicht nur dumpf empfundene Gefühle freisetzt. Und weil Schriftsteller, die Meister der Beschreibung, Gefühle besser in Worte zu fassen vermögen als man selbst. Die narrative Medizin kann ja auch immer so dosiert werden, wie es am besten passt: Nicht jeder muss Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ durchprügeln. Es kann auch Tommy Jaud sein, wenn’s hilft. Von der Macht der Literatur waren im übrigen logischerweise die Dichter selbst immer am meisten überzeugt. In Umberto Ecos „Der Name der Rose“ ist es ein Buch (von Aristoteles), das ein Mönch wegen seiner vermeintlich gefährlichen Wirkung versteckt – es geht um die Komödie und die Macht des Lachens, das der Gottesmann fürchtet. Bei Bernhard Schlinks „Der Vorleser“ sind es Bücher, die einer moralisch gescheiterten Frau Momente der Erleichterung verschaffen.

Darum geht es auch in den Orten der Schwäche und der Bedürftigkeit: In vielen Krankenhäusern sind die Bibliotheken unabdingbare Bestandteile des Alltags. Mehr noch in Übersee als hierzulande werden bibliotherapeutische Maßnahmen bei Diagnosen wie ADHS oder Auffälligkeiten und Zwangsstörungen eingesetzt. Wunderbar allerdings ist Gerks richtige Vermutung, dass neben der professionellen medizinischen Hilfe ganz andere Einrichtungen maßgeblich sind – der Buchhändler als Urform des Bibliotherapeuten. Weil Lesen allerdings als Akt der Rezeption weniger schöpferisch ist als das Schreiben, bricht Gerk auch eine Lanze für das Schreiben als Heilmethode: Poesietherapie nennt man das dann.

Nun muss man bei aller Sympathie für eine so klassische Sache wie das Buch aber zugeben, dass auch ein Film, eine TV-Serie oder ein Gemälde den Kopf wieder in Ordnung bringen können. Und die sensationelle, von Gerk angeführte Meldung aus England, wonach die dortigen Ärzte gegen Depressionen seit 2013 Bücher verschreiben, relativiert sich am Ende auch selbst: Es sind Sachbücher, mithilfe derer Betroffene etwas über ihre Erkrankung erfahren, die auf den Rezepten stehen.

Literatur als Rezept fürs Wohlbefinden wollen wir dennoch preisen: Weil wir es hundertfach erprobt haben, und weil heute Welttag des Buches ist. Zum Schluss, um auf die ganz wenigen Bücherverirrungen zurückzukommen, die vor allem mit dem manischen Büchersammeln und der manchmal drohenden Lese-Überdosis zu tun haben, ein Hinweis aus Hermann Burgers Erzählung „Der Büchernarr“: „Verschenken Sie Ihre Bücher, bevor Ihnen Ihre Sammlung über den Kopf wächst.“