Hamburg. Alzheimer und andere Erkrankungen sind derzeit Thema in Buchpublikationen und am Theater. Demenz gilt oft als persönlicher Makel.

Für Theatermacher ist es eine der Kernfragen: Wie geht man ab? Ulrich Waller, Regisseur und Intendant des St. Pauli Theaters, hat sie sich beim Inszenieren viele Male gestellt, und natürlich ist es eine Frage, die sich auf das ganze Leben übertragen lässt. Vor allem aber auf dessen Ende. Die Freitode von Ulrich Wildgruber, Gunther Sachs, zuletzt von Fritz J. Raddatz hätten in ihm immer wieder die Beschäftigung mit den Themen Alter, Würde und Tod ausgelöst, sagt Waller. Jetzt bringt er, mit Volker Lechtenbrink in der Hauptrolle, ein Stück des französischen Dramatikers Florian Zeller auf die Bühne: „Der Vater“ beschäftigt sich mit dem Krankheitsbild Alzheimer und liegt damit gewissermaßen voll im Trend.

Die Literatur, das Kino, das Theater, praktisch jede Kunstform widmet sich derzeit dem Alter, der Demenz oder der häufigsten Form der Demenzerkrankung, dem Alzheimer. Tilman Jens’ Buch über seinen Vater Walter Jens und Arno Geigers „Der alte König in seinem Exil“ sind bereits vor einiger Zeit erschienen, zuletzt beeindruckte der (ebenfalls autobiografische) Roman „Wir sind nicht wir“ von Matthew Thomas. Der großartige Film „Still Alice“ mit Julianne Moore bescherte der Hauptdarstellerin in diesem Jahr den Oscar. In Hamburg verhandelt Kamp­nagel das Alter von heute an bereits zum zweiten Mal in einem dreitägigen Schwerpunkt unter dem Titel „Old School“, das St. Pauli Theater feiert mit Wallers Inszenierung „Der Vater“ am kommenden Montag Premiere, und die NDR-Moderatorin Bettina Tietjen hat ebenfalls ein bemerkenswert persönliches und – vielleicht noch bemerkenswerter – positives und lebensbejahendes Buch über ihren an Alzheimer erkrankten und mittlerweile gestorbenen Vater geschrieben: „Unter Tränen gelacht“, erschienen im Piper-Verlag.

Während die Werbung gern braun gebrannte „Best-Ager“ zeigt, die höchstens mal mit Besenreißern oder Schlaflosigkeit zu kämpfen haben, und das Kino eine Zeit lang eher auf Feelgood-Seniorenfilme wie das „Best Exotic Marigold Hotel“ setzte, kommen damit nun immer mehr Produktionen heraus, die auch die tabuisierte Seite des Alterns in den Fokus rücken. Kein Wunder: Erst in der vergangenen Woche wurden neue Zahlen veröffentlicht, nach denen Deutschland zu den Staaten gehört, in denen im weltweiten Vergleich die ältesten Einwohner leben. An einer Demenz leiden hierzulande rund 1,2 Millionen Menschen, Tendenz rapide steigend. Selbst wer keine eigenen Angehörigen zu betreuen und das Glück hat, selbst nicht krank zu werden, wird dem Thema früher oder später begegnen. Auf der Straße, im Park, im Café.

Immer wieder wird Demenz dabei als persönlicher Makel wahrgenommen, zu selten als Herausforderung für die ganze Gesellschaft. Das löst Berührungsängste aus – wenn auch nicht bei jedem: „Vor Dingen Angst zu haben, die unabwendbar sind, ist verschenkte Angst“, findet Volker Lechtenbrink, der in „Der Vater“ die an Alzheimer erkrankte Titelrolle spielt und dessen eigene Mutter an Demenz litt. Eine pragmatische Einstellung, die Bettina Tietjen ähnlich formuliert: „Warum mit dem Schicksal hadern?“, fragt sie. „Es kommt sowieso anders, als man denkt.“ Und ist „Demenz“ nicht auch nur ein Begriff? Dem allerdings mehr Schrecken innewohnt, als wenn man – wie früher – einfach Altersstarrsinn sagen würde oder Kauzigkeit oder die liebevolle norddeutsche Umschreibung wählte: Hier wird Opa halt irgendwann „tüddelig“. Normal! Oder?

Die Frage nach der Normalität ist eine Schlüsselfrage, der sich sowohl Bettina Tietjen in ihrem Buch als auch Florian Zeller in seinem Theaterstück stellen und die eben nicht so rasch und eindeutig zu beantworten ist, wie man im ersten Augenblick meint.

Bettina Tietjen hat sich entschieden, ihren Vater nicht „wegzusperren“, sobald er anfing, „merkwürdig zu werden“: „Wir haben ihm seine Freiheit und Würde gelassen. (...) Dass die ,normale‘ Welt um ihn herum damit gelegentlich Probleme hat ... na und?“ Eine Haltung, zu der es Mut braucht – und Vorbilder. Diese Vorbildrolle kann eine Aufgabe der Kunst sein.

„Es geht uns auch um die Deutungshoheit von Wirklichkeit“, bestätigt Ulrich Waller. Indem der Dramatiker Florian Zeller die Szenen aus Sicht seines dementen Protagonisten erzählt, indem er also die Logik immer wieder aushebelt, stürzt er auch den Zuschauer in einen Zustand der Verwirrung, des Ausgeliefertseins und der Orientierungslosigkeit. Richtig wütend kann diese Perspektive machen: Da war doch eben ein Suppenhuhn, wir haben es alle gesehen, warum behauptet diese vermeintlich „normale“ Frau auf der Bühne dann, da sei kein Huhn gewesen, wenn die Schauspielerin doch gerade eben eines in die Küche getragen hat? Ein einfacher Kniff, der dem Publikum wirkungsvoll vor Augen führt, wie sich ein Alzheimer-Patient fühlen kann, und eben auch die Frage stellt: Wer und was ist denn hier nun normal?

Das kann – und darf! – übrigens durchaus komische Züge haben. „Dem weichen wir auch in der Inszenierung nicht aus“, sagt Waller. „Manchmal ist es ja auch in der Realität geradezu aberwitzig“, ergänzt Volker Lechtenbrink, dessen Mutter im Alter in einer Einrichtung in der Willistraße lebte: „Es gab eine Situation, da hatte meine Mutter in jeder Hand eine brennende Zigarette, eine dritte lag vor ihr im Aschenbecher. Sie schaute uns an und sagte vorwurfsvoll: Mensch, ich würde wirklich gern mal eine rauchen!“

Als Angehöriger muss man diese Komik vielleicht auch erst entdecken oder zulassen, die Gelassenheit immer wieder neu lernen. Und es ist ein schmaler Grat. Wenn der senile Vater plötzlich in aller Öffentlichkeit das Horst-Wessel-Lied anstimmt, wird das nicht nur einer prominenten Fernsehmoderatorin peinlich sein. Bettina Tietjen plädiert trotzdem dafür, die Demenz nicht als Krankheit, sondern als Anderssein zu akzeptieren und beschreibt liebevoll, zärtlich und gleichzeitig handfest viele kleine Anekdoten und Momente, die wie im Buchtitel beides beinhalten: das Lachen und das Weinen. „Alles klar bei dir?“, fragt ihre Schwester den Vater an einer Stelle. Der nickt und liefert unbewusst eine lakonische Analyse der eigenen Situation: „Bis auf das, was unklar ist.“

„Den Kopf zu verlieren, ist für die meisten von uns eine Schreckensvision“, schreibt Bettina Tietjen und wird damit vielen aus der Seele sprechen. Wenn man ihr Buch gelesen hat, wenn man sich mit Florian Zellers Theaterstück beschäftigt, wenn man beim Besuch der berührenden Arbeit „König Lear – das verlorene Selbst“ auf Kamp­nagel womöglich andere trifft, die ähnliche Ängste haben oder Vergleichbares durchmachen, dann ist dieser Situation oder der ungewissen Zukunft natürlich nicht der ganze Schrecken genommen. Aber er wird sichtbar. Und ist damit so viel leichter zu ertragen.