Fünf demenzkranke Damen leben in Altona. Das Abendblatt zeigt den Alltag, in dem die Erinnerung, niemals aber die Würde verloren geht.
Sie leben, kochen, spielen und lachen miteinander. Und manchmal gehen sich die fünf Damen in der Altonaer WG für Menschen mit Demenz auch ziemlich auf die Nerven. Peter Wenig und Marcelo Hernandez (Fotos) schildern einen Alltag, in dem zwar die Erinnerung, niemals aber die Würde verloren geht.
Das Bügeleisen gleitet über die Tischdecke. Einmal, zweimal, dreimal... fünfzigmal. Mit dem linken Daumen knibbelt Karen Dommers* nach der letzten störenden Falte. Dabei summt sie vor sich hin: "Ja, das ist gut, gut ist das." Ein paar Meter weiter rechts im Wohnzimmer kuschelt sich Erna Konrad noch tiefer in ihre Decke auf dem roten Sofa, während Christine Wiener und Lotte-Marie Reindl in Zeitungen blättern und Christine Cenke mit einem gelben Buntstift einen Stern ausmalt. Aus den Lautsprechern der kleinen Stereoanlage klingt leise Klaviermusik, die Kaffeemaschine gurgelt. Es sind Momente wie diese, in denen die Szenerie im Erdgeschoss an der Hospitalstraße geradezu idyllisch wirkt.
Karen Dommers wird jedoch dieselbe Tischdecke weiter plätten und plätten, obwohl das Eisen gar nicht eingeschaltet ist. Christine Wiener und Lotte-Marie Reindl werden ein paar Minuten später nicht mehr wissen, was sie da gerade gelesen haben. Und Erna Konrad und Christine Cenke werden vergebens ihre Zimmer suchen. Fünf Frauen, fünf völlig verschiedene Biografien. Erna Konrad, Ururoma, 83 Jahre alt, angeblich die jüngste in Deutschland. Christine Wiener, 86, gelernte Schneidermeisterin, aufgewachsen in Brandenburg. Lotte-Marie Reindl, 83, einst Näherin in einer Hemdenfabrik im westfälischen Bünde. Karen Dommers, 67, kinderlos, bis Mitte der 90er Lehrerin für Englisch und Geschichte. Christine Cenke, 54, die am Downsyndrom leidet und die bis vor zwei Jahren noch Spritzen in den Elbe-Werkstätten verpackte.
Fünf Menschen mit nur einer Gemeinsamkeit: Seit Jahren töten giftige Eiweißmoleküle Nervenzelle um Nervenzelle in ihren Gehirnen, fräsen Schneisen durch das Land der Erinnerungen. Erna Konrad, Christine Wiener, Lotte-Marie Reindl, Karen Dommers und Christine Cenke sind dement. Sie teilen dieses Schicksal mit rund 1,4 Millionen Menschen in Deutschland. Und es werden durch die steigende Lebenserwartung immer mehr. Die Deutsche Alzheimer Gesellschaft rechnet im Jahr 2050 mit drei Millionen Demenzkranken.
Menschen mit Demenz leben in aller Regel in einem Heim oder werden von Angehörigen und Pflegediensten versorgt. Manche werden für ein paar Stunden in einer Tagespflegeeinrichtung betreut. Doch dieses Damen-Quintett lebt Tag und Nacht zusammen - in einer der wenigen Wohngemeinschaften für Menschen mit Demenz in Deutschland. Auf 360 Quadratmeter mit zehn Einzelzimmern im Erdgeschoss eines vierstöckigen Neubaus des Altonaer Spar- und Bauvereins kämpfen die fünf Frauen gemeinsam gegen das Vergessen.
Gewinnen wird keine diesen Kampf. Demenz ist unheilbar. Niemand weiß das besser als Yvonne Siedlaczek, Leiterin des Pflegeteams vom ambulanten Pflegedienst Hamburger Gesundheitshilfe. Sie hat schon in Dulsberg eine solche WG geleitet, seit Jahren ist sie spezialisiert auf das Thema Demenz. Schon der kräftige Händedruck bei der Begrüßung verrät: Diese Frau packt an. In ihrem Schatten tritt Christine Cenke in die offene Wohnküche, wo gerade der Nudelauflauf im Herd brutzelt. "Das ist aber schön, wir kennen uns doch gut", sagt sie und beteuert: "Ich bin immer gut drauf." Das Downsyndrom hat zwar ihr Wachstum bei 1,36 Meter gestoppt - aber mitnichten ihren Humor. "Sie ist unser Sonnenschein" sagt Teamleiterin Siedlaczek.
Erna Konrad lächelt eher still in sich hinein. Warme gütige Augen, schlohweißes Haar, blaues Halstuch, leise Stimme - Erna Konrad war, wie ihre Tochter sagt, "schon immer eine ganz Liebe". Jetzt drückt ihr Yvonne Siedlaczek ein Geschirrtuch und feuchtes Besteck in die Hand. "Was soll ich damit machen?", fragt Erna Konrad. Die Pflegerin zeigt ihr, wie man eine Gabel trocken reibt. Erna Konrad wischt mit dem Tuch über die nächste Gabel, hat dann ein Messer in der Hand und fragt: "Und jetzt?" Wieder macht es ihr Yvonne Siedlaczek vor, das Prozedere wiederholt sich wieder und wieder. Abtrocknen, vormachen, erklären, abtrocknen. Geduld, das ist so etwas wie das erste Gebot in einer Dementen-WG. "Stress macht alles noch viel schlimmer", sagt Siedlaczek. Es würde die Unruhe, ohnehin stark ausgeprägt bei den meisten Dementen, noch weiter steigern. Nebenan tippelt Christine Wiener unruhig von einem Bein aufs andere, beobachtet argwöhnisch, wie Karen Dommers die blaue Tischdecke bügelt und bügelt. "Sind Sie bald fertig?", schnarrt sie gereizt. Karen Dommers summt nur. Irgendwann entscheidet sie, dass jetzt ausgebügelt ist. "Endlich" sagt Wiener und breitet die Decke auf dem Wohnzimmertisch aus: "Das ist mein guter Tisch. Und ich möchte, dass dieser Tisch geschont wird." Noch immer kann sie es nur schwer ertragen, dass ihr mitgebrachtes Mobiliar im Wohnzimmer nun von allen genutzt wird. Ihr handgeschriebenes Büchlein mit Rezepten wie "Christstollen à la Oma Bornstedt" lässt sie keine Sekunde aus den Augen, wenn in der Küche Plätzchen gebacken werden. "Das ist mein größter Schatz", sagt sie und bringt es sofort wieder in ihr Zimmer.
Meins, deins. Wer mal in einer WG gewohnt hat, kennt diese Diskussionen. Und weiß, dass die Sartre-Weisheit "die Hölle, das sind die anderen" weit mehr sein kann als nur ein Theater-Spruch. Wie sehr der eigentlich vertraute WG-Partner mitunter nervt. Mit seinem Geiz. Oder mit seiner Unordnung.
In der Hospitalstraße hat niemand seine Mitbewohnerin vor dem Einzug auch nur einmal gesehen. Dass sie hier überhaupt wohnen, haben die Angehörigen entschieden. Und wieder ausziehen? Klar, theoretisch ginge das, der Mietvertrag ist kündbar. Aber wohin? Wieder zurück in die eigene Wohnung? Eigentlich schon aus Sicherheitsgründen ausgeschlossen. Bei Erna Konrad brannte die Küche ab, als sie sich morgen um 2 Uhr Frühstück machen wollte und die Brötchentaste am Toaster klemmte. Lotte-Marie Reindl ließ das Essen auf einer glühenden Herdplatte so lange überkochen, bis die Rauchmelder anschlugen - und reagierte höchst verärgert, als die Nachbarn hektisch an der Tür klopften. Was denn bitte schön die Aufregung solle. Christine Cenke saß stundenlang im Einkaufszentrum am Osdorfer Born, ohne Plan für einen Heimweg. Karen Dommers verirrte sich mehrfach völlig, gab schließlich ihren Führerschein ab, nachdem sie kleinere Unfälle gebaut hatte. In der WG hat ihr Bruder einen Zettel "Toilette" an ihre Badezimmertür geklebt - nach dem Einzug hatte sie zunächst das Bad auf dem Flur gesucht.
Nein, niemand käme mehr allein zurecht. Daheim bräuchten sie eine 24-Stunden-Versorgung - nur in Ausnahmefällen zu leisten. Die einzige reelle Alternative wäre ein Heim. Karen Dommers' Bruder hat sich mehrere Heime angeschaut. Und ist sich sicher: "Dort hätte man sich nie so um sie kümmern können. Hier ist unsere Karen richtig wieder aufgeblüht."
Wieder Worte finden, wenn das Gedächtnis immer weiter abbaut - daran arbeiten sie hier Tag für Tag. Am Nachmittag fliegt ein bunter Plüschball von Stuhl zu Stuhl, wer fängt, ist an der Reihe. Pflegerin Nicole Dwenger springt im ABC immer einen Buchstaben weiter: "Und jetzt, Frau Konrad, ein Wort mit I am Anfang." Erna Konrad überlegt lange, bis ihr Gesicht auf einmal leuchtet: "Ich hab's, Igel". Alle klatschen. Nicole Dwenger achtet darauf, dass sich niemand gedemütigt fühlt. Dauert es zu lange, überspringt sie einfach den Buchstaben. Als Erna Konrad dann erschöpft aufs Sofa sinkt, hält die Pflegerin so lange ihre Hand, bis sie eingeschlafen ist. Die Bilder von wund gelegenen und vor sich dämmernden Greisen aus TV-Berichten über Pflege-Skandale scheinen unendlich weit weg.
In der Hospitalstraße gibt es auch dann kein böses Wort, wenn eine Bewohnerin das schrille Piepen mal ignoriert und einfach durch die alarmgesicherte Haustür spaziert. Eine Pflegerin folgt ihr und überzeugt sie nach ein paar Schritten sanft, dass der Heimweg jetzt doch die bessere Idee wäre. Vielleicht ist es das schöne Wort Würde, das am besten den Ton in dieser WG trifft. Karen Dommers etwa hasst ihre Pillen gegen die Demenz - erst recht die Einnahme vor den Mitbewohnerinnen. Also nimmt sich eine Pflegerin die Zeit, bis Karen Dommers irgendwann auf ihrem Zimmer die Tabletten schluckt. An der Hospitalstraße gibt es keine ignoranten "nun-lass-das-mal-Oma"-Sprüche. Das respektvolle "Sie" verfliegt nur mal bei Tisch oder beim Knuddeln.
Die fünf Frauen, so scheint es, sind an der Weggabelung zwischen ihrem bisherigen Leben und dem Land des Vergessens den richtigen Menschen begegnet. Menschen wie Nils Scharnemann, der an diesem Nachmittag, den St.-Pauli-Fanschal um den Hals geschlungen, eineinhalb Stunden vor seinem Schichtbeginn in die WG kommt. "Zuhause", sagt er, "hatte ich gerade eh nix zu tun." Oder Köchin Sofia Barkzie, die Karen Dommers zwischen Kartoffeln schälen und Gemüse putzen ganz fest drückt. Vor allem aber haben die Damen Familien, die sich wirklich kümmern. Anders würde es hier auch nicht gehen. Eine "Oma-Du-musst-jetzt-ins-Heim"-Abschiebetaktik kann in einer selbstorganisierten WG für Menschen mit Demenz nicht funktionieren
"Wir sind auf die Hilfe der Angehörigen angewiesen", sagt Birgit Laukötter, bei der alsterdorf assistenz west im Verbund der Evangelischen Stiftung Alsterdorf verantwortlich für dieses Projekt. Fast immer ist ein Angehöriger zu Besuch, zum Klönen, zum Spaziergehen, zum Kochen. Großfamilie Konrad führt sogar einen Besucherplan, damit es Oma Erna nicht zu viel wird.
Weihnachten kommen sie dann fast alle. Auf dem Esstisch brennt ausnahmsweise eine echte Kerze, in einer Wohngemeinschaft für Menschen mit Demenz eigentlich tabu. Christine Wiener liest mit leiser, aber fester Stimme die Weihnachtsgeschichte. Im Topf sieden die Würstchen, den Kartoffelsalat hat Familie Reindl mitgebracht. "Wie immer nach meinem Rezept", sagt die Mutter zufrieden. Aus der in einem Christbaumständer versteckten Spieluhr, einem alten Familien-Erbstück der Reindls, dudelt "Stille Nacht".
Rituale bewahren, wichtig gerade an Tagen wie diesen, wenn festliche Aufregung den gewohnten Tagesablauf stört. Selbst in der harmonischsten Familie zerrt Weihnachten mit Geschenke-Marathon und Festschmaus-Akkord mitunter an den Nerven. Menschen mit Demenz, die feste Strukturen unbedingt brauchen, können Festtage komplett aus dem Gleichgewicht bringen. Daher haben sich alle darauf geeinigt, nur jeweils ein Geschenk mitzubringen. Bloß nicht zu viel Aufregung und vor allem keinen Neid am Fest der Liebe. Christine Cenke strahlt, als sie ihr Lieblingsparfum auspackt, Christine Wiener freut sich über die neue rote Strickjacke. Minuten später zieht sie indes die Jacke verwirrt schon wieder aus: "Das ist doch nicht meine." Auch Karen Dommers weint mehr als an anderen Tagen. Zum Glück ist auch ihre Familie da, tröstet, lenkt ab. Silvester wird dann zum Stresstest für den Nachtdienst. Die mitternächtliche Böllerei ängstigt die WG, vor allem Christine Wiener. Aufgeregt stürmt sie aus ihrem Zimmer, schimpft: "Was soll denn diese Knallerei?" Bei Lotte-Marie Reindl verwischt der Stress das Gestern und Heute stärker als sonst. Mit einem Mal ist sie wieder das kleine Kind im westfälischen Bünde. "Nach den Ferien muss ich doch wieder zur Schule, wie soll das gehen?", fragt sie ihren Sohn. Der beruhigt: "Mama, das wird schon, das kriegen wir hin." Das Netz in der Hospitalstraße, es hält, fängt auf.
Anfang Januar, der Tannenbaum in der WG ist längst abgeschmückt, treffen sich die Angehörigen dann wieder wie alle zwei Wochen im ersten Stock im "treffpunkt.altona" an der Großen Bergstraße. Mobiliar - weiße Resopaltische, Kunststoffstühle - und Getränke - Wasser, Kaffee, Tee - sind immer gleich, die Tagesordnung wechselt. Einrichtung, Putzdienst, Haushaltskasse, Pflegedienst, Fragen über Fragen, bis hin zum Taschengeld. Eigentlich hatten sich die Angehörigen geeinigt, dass das Privatsache bleibt. Was dazu führte, dass die Pflegerinnen beim Weihnachtsmarktbesuch umständlich aus jedem Portemonnaie 2,20 Euro für einen Kakao heraus fummeln mussten. Jetzt gibt es für solche Ausflüge eine Gemeinschaftskasse.
Und die Damen sind viel unterwegs. Am Hafen, im Michel, an der Elbe. Sie schnibbeln Zwiebeln, kaufen ein, bringen den Müll runter - natürlich immer begleitet. Der Fernseher im Wohnzimmer wird nur selten eingeschaltet, ab und an für DVDs mit alten Filmen wie "Die Feuerzangenbowle" mit Heinz Rühmann. "Wir haben uns bewusst für einen Neubau im Zentrum von Altona entschieden", sagt Birgit Laukötter. Die Geschäfte an der Großen Bergstraße liegen gleich um die Ecke. Als die Angehörigen Anfang September die Möbel in die Wohnung schleppten, trommelten nebenan die Straßenkünstler vom Festival "Stamp". Die Rollstuhlrampe taugt auch prima zur Rampe für Bobby Cars, in den Nachbarwohnungen im Haus leben viele Kinder. Nein, diese WG ist keine abgeschottete Insel des Vergessens irgendwo am Rande der Stadt, sondern liegt mitten im Leben. Und Leben in einer Gemeinschaft schafft Reize. Wichtig, denn wer nur noch dahindämmert, baut noch schneller ab.
Gemeinschaft heißt indes auch, sich gegenseitig aushalten zu können. Bei so unterschiedlichen Charakteren. "Ich habe es gern ordentlich", sagt Lotte-Marie Reindl. Ihr Zimmer ist nicht sauber, es ist klinisch rein. Entschuldigend tippt sie auf die beiden Zeitungen auf dem kleinen Holztischchen: "Die muss ich noch wegräumen." Nach jedem Abwasch wienert sie die Spüle auf Hochglanz. Wer so pingelig ist, kann es nur schwer ertragen, wenn Christine Cenke fröhlich mit dem Löffel in der Suppe patscht. "Keine Kinderstube", murmelt sie verärgert, hält Christine nicht nur in diesem Moment für ein kleines, ungehorsames Kind. Ein paar Minuten eskaliert die Situation. Christine Cenke schiebt den Teller weg, heult und schimpft: "Die sind doch sowieso alle gegen mich." Ihre Selbstständigkeit, die hat sie immer verteidigt. In der Schule. Und dann in der Wohngruppe in Alsterdorf. Jetzt ist sie zwar dement, wie jeder zweite Mensch mit Downsyndrom über 50, aber deshalb lässt sie sich auf gar keinen Fall alles gefallen.
Nur eine Stunde später beim "Mensch ärgere Dich nicht" ist der Konflikt indes wie fast alles wieder vergessen, Demenz kann da auch so etwas wie eine Gnade sein. Christine Cenke strahlt, als sie zwei Sechsen hintereinander würfelt. Und Lotte-Marie Reindl setzt absichtlich ein anderes Männchen, um sie nicht rauszuschmeißen: "Wir müssen ihr doch helfen." Und mitunter wirken die Dialoge, als hätte sie sich Loriot ausgedacht. Etwa wenn Christine Cenke über den gesamten Tisch niest, Lotte-Marie Reindl ranzt "Lauter geht es ja wohl noch nicht" und Karen Dommers in einem lichten Moment antwortet: "Lauter kann sie nicht. Sie ist ja noch klein."
Dann muss Karen Dommers wieder ganz dringend bügeln. Als es an der Haustür klingelt, blickt sie auf - und das so angespannte Gesicht verwandelt sich in ein Strahlen. Ihre Freundin ist zu Besuch. Auch Lehrerin, vor 44 Jahren hat sie mit Karen gemeinsam das Referendariat gemacht. "Karen war eine großartige Lehrerin", sagt ihre einstige Kollegin. Beliebt bei den Schülern, anerkannt im Kollegium. Bis sie mit Mitte 50 dieselbe Klassenarbeit an zwei Tagen in Folge schreiben ließ, die Pausenaufsicht nicht mehr packte, der Schulleiter sich besorgt erkundigte. Nach der Diagnose Demenz brachen fast alle Kollegen und Kolleginnen den Kontakt ab, nur die allerbeste Freundin blieb wirklich treu. Auch jetzt in der WG. "Karen mag ihre Sprache und ihr Gedächtnis weitgehend verloren haben. Aber ihr herzliches Wesen ist geblieben", sagt sie. Die beiden drücken sich wieder und wieder. "So schön, so schön", sagt Karen. Ihren Besuch wird sie dennoch sofort vergessen.
Können Menschen mit Demenz überhaupt so etwas wie Glück empfinden? Ja, sagt die Deutsche Alzheimer Gesellschaft, "wenn sie im Kontakt mit anderen sind und Liebe und Wertschätzung erfahren. Sie können aber auch traurig und verzweifelt sein, wenn sie sich einsam und hilflos fühlen." Vielleicht ist es die große Kunst, genau diese Glücksmomente zu spüren. Etwa wenn Karen Dommers und Christine Wiener gemeinsam ein Tischtuch bügeln und falten, eine geschlagene Dreiviertelstunde. Wenn Erna Konrad stolz auf das Schwarz-Weiß-Foto auf ihrem Nachtschrank deutet: "Das ist Harry, mein Mann. Ein toller Tänzer und ein ganz toller Mann". Und wenn abends Christine Wiener im Kerzenschein "Die Gedanken sind frei" anstimmt - und ihre Mitbewohnerinnen mitsummen.
Momente wie diese werden, das ist sicher, rarer werden. Die fünf Damen stehen erst am Beginn ihrer langen Reise ins Land des totalen Vergessens. Noch erkennen sie ihre Angehörigen, ihre Freunde. Lotte-Marie Reindl behauptet zwar oft, dass sie hier nur zu Besuch sei. Ihr Mann müsse eben derzeit viel arbeiten: "Aber bald holt er mich ab." Sie sei ja auch erst 50. Aber des Abends geht sie dann doch genauso entspannt schlafen wie Erna Konrad, die oft fragt: "Wissen Sie, wann heute hier Schluss ist und ich nach Hause kann?"
Ihr Zuhause wird die WG bleiben, es gibt kein Zurück. Die Nervenzellen werden weiter sterben, die geistigen und körperlichen Fähigkeiten schwinden. Die gewohnten Ausflüge zum Markt in Ottensen werden in Rollstühlen schwieriger werden, irgendwann muss den Bewohnerinnen wohl das Essen gereicht werden. Und es ist möglich, dass Aggressionen im fortgeschrittenem Demenz-Stadium zunehmen werden.
Aber ihr Pflegeteam wird bleiben - genau wie die Familien. Die Angehörigen werden sich die Entscheidung nicht leicht machen, wer in die noch freien Zimmer einziehen wird. Sie werden darauf achten, dass es Bewohner mit engagierten Familien sind, die mit anpacken. Sich kümmern, genau wie sie.
Die fünf Damen werden immer mehr vergessen. Aber sie werden nicht vergessen.
Weitere Informationen gibt es bei der Koordinationsstelle für Wohn-Pflege-Gemeinschaften. Auf der Homepage sind alle Wohn-Pflege-Gemeinschaften in Hamburg und die aktuell freien Zimmer aufgeführt. http://www.koordinationsstelle-pflege-wgs-hamburg.de/
* In Absprache mit den Angehörigen und mit Rücksicht auf die Privatsphäre der Bewohner der Wohngemeinschaft wurden die Nachnamen der fünf Damen geändert