Das Theater-Festival „Um alles in der Welt – Thalia Lessingtage 2015“ hatte einen starken Auftakt mit einem Vortrag von Richard Sennett und einem Gastspiel der Münchner Kammerspiele zu den NSU-Morden.

Hamburg. Wir leben in einer Zeit unübersichtlicher Krisen und Konflikte und in dem beschämenden Gefühl, sie immer weniger kontrollieren zu können. Da wirkt es fast schon beruhigend, mit welcher Gelassenheit der US-amerikanische Soziologe Richard Sennett, ein schmaler Mann mit Weißhaar, Brille, flinken Augen und besonnener Zunge, eine Lösung präsentiert, eine Idee für ein friedliches Zusammenleben, die „Open City“.

Der 71-Jährige spricht am Sonntagmorgen im ausverkauften Thalia Theater anlässlich der Eröffnung des diesjährigen interkulturellen Festivals „Um alles in der Welt – Thalia Lessingtage 2015“. Mit seinem Themenschwerpunkt „Aufruhr“ und hochkarätigen nationalen und internationalen Gastspielen erweist es sich erneut als geradezu dramatisch am Puls der Zeit.

In seinen einleitenden Worten hatte zuvor bereits Thalia-Intendant Joachim Lux die Errungenschaften von „Egalité, Fraternité, Liberté“ nach Rousseau beschworen, die Idee des ewigen Friedens von Kant, den Toleranzgedanken Lessings. Und Lux, der in Harvestehude in unmittelbarer Nähe zur soeben gestoppten Flüchtlingsunterkunft lebt, wird auch persönlich: „Ich empfinde es als Bereicherung und nicht als Bedrohung, wenn dort ein Haus für Flüchtlinge entsteht.“ Offensiv zustimmender Beifall des überwiegend hanseatisch geprägten Publikums brandet auf. Lux’ Aussage erweist sich als perfekte Bebilderung von Sennetts späterer These.

Unsere Städte seien Ansammlungen abgeschotteter kleiner Gemeinschaften, sozial und räumlich undurchlässig, ohne die Chance eines Austauschs, und dadurch geprägt von Vorurteilen übereinander, so Sennett. Ein friedliches Miteinander sei so nicht möglich. Im Gegenzug plädiert er für die „offene Stadt“. Eine Stadt, in der die Gesellschaften lernen, mit der Komplexität, den Unterschieden und Störungen umzugehen und sie nicht als Bedrohung zu sehen. Hierzu müssten sie eine Basis vorfinden, auf der echte Begegnungen stattfinden können.

Offenheit definiert Sennett anhand zahlreicher Folien als eine Spannung zwischen Durchlässigkeit und Widerstand. „Die Städte müssen so porös gestaltet sein, dass sie sich physisch miteinander mischen“, so Sennett. Der öffentliche Raum befinde sich nicht nur außerhalb, sondern auch innerhalb von Gebäuden. Seine Thesen bebildert er mit Beispielen stadtarchitektonischer Auswüchse von Caracas bis Mumbai. Mit Favelas, die nur eine Autobahnbreite von gepflegten Siedlungen entfernt sind. Positiv führt er das Leben in den Straßen von Brooklyn an.

Die Überzeugungskraft seiner Diagnose urbanen Lebens zeigt sich in den Worten zu aktuellen deutschen Protestbewegungen. „Pegida hat eine Fantasievorstellung vom Leben der Muslime“, so Sennett. „Die Pegida-Demonstranten leben in einer Gegend, in der es kaum Muslime gibt.“ Wer diesem klugen und weit gereisten Mann eine Weile zuhört, fängt an zu glauben, dass ein anderes Leben und ein friedliches Miteinander tatsächlich möglich sind.

Ein Beispiel für nationalen Aufruhr sorgte am Vorabend für den eindrucksvollen Theater-Auftakt. Johan Simons, Noch-Intendant der Münchner Kammerspiele und neuer Chef der Ruhrtriennale, gastierte mit seiner Inszenierung von Elfriede Jelineks „Das schweigende Mädchen“. Das Schweigen der NSU-Überlebenden Beate Zschäpe ist der österreichischen Literaturnobelpreisträgerin so unerträglich, dass sie mit ihren wortgewaltigen Textflächen dagegen anschreibt. Anders als ein Regisseur wie Nicolas Stemann, der die Redeschwälle Jelineks mit Spiellust aufbricht, begegnet Simons ihnen mit Strenge, hier einer Mischung aus jüngstem Gericht und Sprach-Oratorium.

Prozessprotokolle, Medienberichte, aber auch biblische Motive hat Jelinek zu einer scharfzüngigen, polemischen Suada geformt, in der sie das Terroristentrio Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe zu einer neuen Erlöserfamilie umdeutet. Der Text ist sperrig, die Aufführung, die den Text mit ein paar neu tönenden Takten an Piano, Violine und Synthesizer durchsetzt, spröde und nicht unanstrengend. Zum Glück präsentieren die durchweg exzellenten, am Bühnenrand vor Notenständern aufgereihten Darsteller, darunter die Ex-Hamburger Wiebke Puls, Thomas Schmauser, Annette Paulmann und Hans Kremer, das Werk bei aller Statik fesselnd und eindringlich.

Stellvertretend für uns alle empört sich Jelinek über das Ungeheuerliche der Ereignisse, die Vertuschungen und Ungereimtheiten der Aufklärungsversuche. Als Zuhörer verarbeitet man all das ein wenig mit ihr. Beklemmung bleibt. Der Weg zur „offenen Stadt“, er scheint noch steinig und weit.

Lessingtage 2015 bis 8.2., Thalia Theater, Alstertor und Gaußstraße, Karten unter T. 32 81 44 44