Am Wochenende eröffnen die sechsten Lessingtage am Hamburger Thalia Theater, die sich der Völkerverständigung verpflichtet sehen. Intendant Joachim Lux über Europas Werte in der Krise und die Rolle der Künste.

Hamburg. Am Wochenende eröffnen die sechsten Lessingtage am Thalia Theater, ein Festival, das sich „Um alles in der Welt“ dreht, sich insbesondere aber, ganz im Sinne Lessings, der Völkerverständigung und Toleranz verpflichtet sieht. Konflikte werden in diesem Jahr unter dem beängstigend passenden Titel „Aufruhr“ verhandelt, die erfolgreiche „Lange Nacht der Weltreligionen“ widmet sich dem Schwerpunkt „Gewalt und Religion“. Ein Gespräch mit Thalia-Intendant Joachim Lux.

Hamburger Abendblatt: Sie haben in Ihrer Rede auf der Hamburger „Je suis Charlie“-Demonstration gesagt, wir seien es den Ermordeten schuldig, besser für unsere Werte zu kämpfen als bislang. Haben wir an dieser Stelle versagt? Haben wir in Westeuropa unsere eigenen Werte nicht ausreichend wahrgenommen?

Joachim Lux: Das denke ich schon, ja. Ich sag es mal mit etwas gebremstem Pathos: Wir können tatsächlich stolz sein auf eine ganze Reihe von Werten in Europa, das sind im Prinzip die Werte der Französischen Revolution. Stattdessen haben wir oft eine Meckerkultur, die das große Ganze aus dem Blick verliert. Wenn man ins außereuropäische Ausland fährt, merkt man, wie es ist, wenn die Mischung von Wohlstand, Freiheit, Gerechtigkeit nicht richtig funktioniert. Man darf das alles nicht für selbstverständlich nehmen. Auch 70Jahre Frieden sind nicht selbstverständlich. Diese Werte sind Auftrag und Verpflichtung: unsere Kultur weiterzuentwickeln, am sozialen Frieden zu arbeiten, neugierig, offen und respektvoll gegenüber anderen zu sein, zum Beispiel gegenüber Flüchtlingen.

Die Argumentation der Gegner von mehr Offenheit ist: Wir sind längst viel zu respektvoll, zu tolerant. Jetzt reicht das mal.

Lux: Diese Wagenburg-Mentalität ist kurzsichtig und gefährlich. Es schließt sich nicht aus, offensiv für die eigenen Werte einzutreten, eigene nationale, kulturelle oder sakrale Traditionen wertzuschätzen und dennoch weltoffen und respektvoll zu sein.

„Aufruhr“ lautet das vielsagende Motto dieser Lessingtage. Und „Aufruhr“ ist ja nicht nur der Eklat selbst, das Attentat, die Krise, sondern auch die Gegenreaktion. Pegida ist eine Form, die Solidaritätsdemonstrationen mit „Charlie Hebdo“ eine andere. Die waren weltweit ein beeindruckender, stiller Protest, eine neue Qualität von Aufruhr. Warum jetzt?

Lux: Die Bedrohung der Meinungs- und der Kunstfreiheit rührt an den Kern unserer Gesellschaft. Es wurde nicht gegen etwas, sondern für unsere Werte demonstriert. Plötzlich gibt es eine europäische Öffentlichkeit. Wenn schlechte Dinge etwas Gutes haben, dann hat es vielleicht dieses Gute. Und wenn es uns gelingt, daran anzuknüpfen, dann wäre viel gewonnen. Es gibt Aufruhr und Gegen-Aufruhr und Aufruhr gegen den Gegen-Aufruhr. Hamburg ist ja durch seinen Wohlstand fast eine „gated community“! Schöne Architektur, genug Geld, grüne Landschaft, alles wunderbar. Aber der Aufruhr ist in den Städten und denkt man an die Lampedusa-Flüchtlinge, hat es der Aufruhr ja auch schon nach Hamburg geschafft. Ich denke, als Theater ist man gut beraten, sich diesen gesellschaftlichen Phänomenen künstlerisch zu stellen.

Ist ein Theater nicht selbst eine Art „gated community“, ein in sich geschlossenes Milieu?

Lux: Ja, klar. Aber wir bemühen uns, uns zu öffnen, über spezielle Programme für Migranten, aber auch für andere. Mit Einführungen, mit Übertiteln – unsere zentrale Barriere ist ja die deutsche Sprache. Unser größter Erfolg in dieser Hinsicht: die „Lange Nacht der Weltreligionen“ während der Lessingtage. Da sitzt nicht nur der gutbetuchte Bürger, da sitzt die Gesellschaft in ihrer Vielfalt.

Da sitzt auch Wilhelmsburg?

Lux: Nein, ich meine das nicht sozial, sondern kulturell. Da sitzen Frauen mit Kopftuch, da sitzen Aleviten, der deutsche Mittelstand, Protestanten, Katholiken, Menschen jüdischen Glaubens, das ist total gemischt.

Warum funktioniert das da?

Lux: Wegen des verbindenden Themas, der Religion.

Aber „Romeo und Julia“ hat auch ein Thema, das alle Menschen noch viel mehr verbindet – trotzdem bleibt das Publikum da sehr homogen.

Lux: Die Liebe.

Genau. An verbindenden Themen mangelt es doch nicht.

Lux: Stimmt. Aber auf der Bühne sitzen auch die Vertreter dieser Religionen. Es wird nicht über sie verhandelt, es wird mit ihnen verhandelt. Wahrscheinlich ist das der Punkt.

In der Langen Nacht hätten Sie thematisch ja kaum präziser liegen können: „Religion und Gewalt“ ist das Thema. War Ihnen diese Schwerpunktsetzung, die lange vor Pegida oder Paris feststand, im Nachhinein selbst etwas unheimlich?

Lux: In der Tat. Das kann man vorher nicht ahnen. Die religiösen Quellen werden dort als literarische Texte behandelt und nicht als Glaubenssätze – das befreit. Und es gibt Gespräche zur derzeit wohl brennendsten Frage: Wie kann es sein, dass Religionen friedensstiftende Utopien sein wollen und gleichzeitig so viel Gewaltpotenzial wachrufen? Nicht nur im Islam, sondern auch im Christentum.

Angst ist ein großes Thema. Vor Attentaten, ganz akut, aber auch ganz privat, vor dem Verlust des Arbeitsplatzes, der gesellschaftlichen Stellung, dem diffusen Fremden, der Zukunft. Inwieweit kann das Theater Ängste abbauen?

Lux: Theater kann nicht sehr viel. Schon gar nicht die Welt retten. Aber Ängste abbauen – das kann das Theater wirklich! Schon weil es ja davon lebt, dass auf der Bühne Verhältnisse vorgespielt werden, die durch die Distanzierung erlebbar und verarbeitungsfähig werden. Da werden zum Beispiel Ängste vor dem Fremden abgebaut, nehmen Sie nur unsere Inszenierung „Die Schutzbefohlenen“ zum Thema Lampedusa, wo wir allabendlich Tischgespräche anbieten. Das bewirkt ungeheuer viel. Und natürlich sind die Lessingtage als Ganzes da eine große gesellschaftspolitische Möglichkeit. Man kommt mit anderen Kulturen in Dialog und stellt seine eigenen Klischees und Bilder infrage. Das bereichert. Betriebsintern gilt das übrigens auch. Wir stehen immer wieder vor der Frage: Fahren wir als Thalia Theater nach China oder nach Russland? Sollen wir die Einladung nach Budapest annehmen? Sind Boykott, Strafe und Abgrenzung die richtige Antwort – oder sollte man offen sein und hinfahren?

Ihre Antwort ist: Offenheit.

Lux: Ja. Aber nicht um jeden Preis. Man sollte schon sehr sorgfältig aufpassen, dass man nicht benutzt wird.

Sie wollen das Thalia gesellschaftspolitisch verankern. Es gibt ja auch die andere Strömung: Theater als Ablenkung, als Erholung von dem Anstrengenden, mit dem der Zuschauer konfrontiert ist. Auch auf diese Art kann Theater ein Mittel gegen Angst sein – ein Beruhigungsmittel. Ist der Wunsch danach beim Publikum wieder stärker geworden?

Lux: Die Nachfrage nach Ablenkung war immer kräftig und hat auch nicht nachgelassen. Das gehört sicher auch dazu. Man wirft es uns gelegentlich vor. Peter Zadek, dem das Moraline zuwider war, hat seine Spielpläne in Krisenzeiten stets am Unterhaltungsbedürfnis ausgerichtet. Die Lessingtage sind das Gegenprogramm dazu. Ich bin schon jedes Jahr überrascht, dass das Programm, das ja nicht auf den ersten Blick zugänglich ist, in Hamburg so gut funktioniert.

Der französische Regisseur Pascal Rambert, der derzeit am Thalia probt, bekannte unter dem Eindruck der Pariser Geschehnisse im Abendblatt-Gespräch, er fühle sich als Künstler nicht „nützlich“ genug. Kennen Sie das Gefühl?

Lux: Absolut. Theater ist oft wahnsinnig ungenügend. Theater hat ja entscheidende Schwächen: Theater braucht aktuelle Texte! Und Theater ist langsam! Und Theater ist auf Deutsch! Aber wir bemühen uns. Wir tun viel dafür, nicht nur Kunsttempel zu sein, sondern auch ein gesellschaftlich relevanter Ort. Ich betrachte das als unseren Kernauftrag.

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