Sie coacht Führungskräfte und hat Bücher geschrieben. Ein Gespräch mit Mirriam Prieß über krankmachende Egozentrik, Egoismus und warum es wichtig ist, einen Menschen in seinem Wesen zu erkennen.

Hamburg. Ihr Wunsch war es, sich im Hotel „Vier Jahreszeiten“ zu treffen. Fünf-Sterne-plus, dieses Ambiente passe zu ihr, hatte sie vorher gesagt. Wir verabreden uns im Zwei-Sterne Restaurant „Haerlin“, dort wo es sich Gourmets in wohnlichem Ambiente gutgehen lassen. Dann kommt Dr. med. Mirriam Prieß, wie ich überpünktlich. Sie bestellt einen Tee, und dann geht er los, unser Schlagabtausch über Narzissmus und seine krankhaften Folgen, der Burn-out.

Welt am Sonntag: Frau Dr. Prieß, sind Sie eine Narzisstin?

Mirriam Prieß: Ich überlege gerade, wie Sie auf diese Frage kommen.

Welt am Sonntag: Sie kommen mir irgendwie so vor.

Prieß: Wie verstehen Sie denn Narzissmus?

Welt am Sonntag: Auch als Selbstverliebtheit. Sind Sie denn gar nicht in sich verliebt?

Prieß: Ich mag mich. Ich bin aber nicht in mich verliebt.

Welt am Sonntag: Ist man ein Narzisst, wenn man in sich verliebt ist?

Prieß: Die Sage von Narziss geht ja so, dass er durch die Welt geht und versucht, sich überall auf der Suche nach sich selbst zu spiegeln. Er kommt am Ende an einen See, sieht sein Spiegelbild und ist so verliebt, dass er sich berühren möchte. In dem Moment, wo seine Hand die Wasseroberfläche berührt, zerfällt er.

Welt am Sonntag: Das bedeutet?

Prieß: Viele denken, dass das Drama des Narzissten eigentlich die Selbstverliebtheit ist. Das ist aber nicht richtig.

Welt am Sonntag: Was dann?

Prieß: Das Drama des Narzissten ist die Überzeugung, in dem Moment, in dem ich mit mir in Berührung komme, zerfalle ich und bin nichts. Wer das Gefühl hat, im Inneren nichts zu sein, der muss im Außen alles sein.

Welt am Sonntag: Wer sind Sie im Außen?

Prieß: Ich bin die, die ich bin. Im Innen wie im Außen.

Welt am Sonntag: Ich frage mal andersherum. Auf der Skala eins bis sieben: Wie sehr stimmen Sie der Aussage zu, ich bin eine Narzisstin?

Prieß: Was ist Nummer eins?

Welt am Sonntag: Ich bin kein Narzisst.

Prieß: Dann sage ich eins.

Welt am Sonntag: Das glaube ich Ihnen nicht. Besitzen Sie nicht den Wunsch nach Anerkennung und Bewunderung?

Prieß: Ich besitze den Wunsch auf Begegnung und Miteinander.

Welt am Sonntag: Inwiefern miteinander?

Prieß: Begegnung im Dialog auf Augenhöhe, sich auszutauschen. Mir geht es nicht um Anerkennung, sondern um die Sache und um die Person und deren Willen, zu handeln.

Welt am Sonntag: Sie spüren überhaupt keinen Geltungsdrang?

Prieß: Nein.

Welt am Sonntag: Sorry, das nehme ich Ihnen aber nicht ab.

Prieß:

Wissen Sie, was für einen Drang ich verspüre?

Welt am Sonntag: Erzählen Sie mal.

Prieß: Ich verspüre den Drang nach Inhalt. Das, was ist, zum Ausdruck zu bringen. Das Wesen der Welt zu begreifen und zu leben.

Welt am Sonntag: Ist denn Selbstverliebtheit und Egozentrik gleich Narzissmus?

Prieß: Das sind Symptome von Narzissmus. Jemand der das Gefühl hat, nichts zu sein, der muss die ganze Zeit um sich selbst kreisen und drehen.

Welt am Sonntag: Warum?

Prieß: Weil er mit sich selbst nicht in Beziehung ist. Ihm fehlt der gesunde Egoismus, und er ersetzt dies durch das Extrem der Egozentrik.

Welt am Sonntag: Bin ich ein Narzisst, weil ich ein bisschen egozentrisch bin?

Prieß: Das können wohl nur Sie selbst beantworten.

Welt am Sonntag: Dann sage ich mal ehrlich, ich bin ein Narzisst.

Prieß: Herzlichen Glückwunsch. Sie sind auf der Flucht vor sich selbst?

Welt am Sonntag: Also, ich glaube ich kann mit meinem Rollstuhl gar nicht mehr fliehen.

Prieß: Was meinen Sie, vor wie vielen Situationen und Dingen man fliehen kann?

Welt am Sonntag: Wie meinen Sie das?

Prieß: Indem Sie ein Leben leben, das Ihnen nicht entspricht, und im Außen etwas darstellen, was Sie nicht sind.

Welt am Sonntag: Wie komme ich dazu, mich trotzdem zu mögen?

Prieß: Die Frage ist, wo das Sich-mögen gelegt wird. Das geschieht im Elternhaus. Die Atmosphäre unseres Zuhauses, in der wir aufgewachsen sind, legt den Grundstein, wie wir mit uns und der Welt umgehen. So wie die Eltern miteinander und mit dem Kind umgegangen sind, daraus lernt das Kind mit sich und der Welt in Beziehung zu treten.

Welt am Sonntag: Ich kann also meinen Sohn zum Narzissten erziehen?

Prieß: Sagen wir einmal so: Das Kind lernt, sich durch den Blick seiner Bezugspersonen zu sehen. Sie haben es als Bezugsperson in der Hand, ob ihr Sohn dazu in der Lage ist, sich selbst zu erkennen. Das tut er, wenn Sie und Ihre Frau ihn in seinem Wesen erkannt haben.

Welt am Sonntag: Was für Fragen kommen einem da?

Prieß: Wer ist der Mensch vor mir? Wer ist er in seinem Wesen? Es geht um eine Atmosphäre des Dialoges, offen und interessiert für den anderen zu sein und ihm in der Haltung zu begegnen: So, wie du, bist, bist du gut. Schön, dass du da bist. Das heißt nicht, dass ich alles gutheiße, was du tust. Aber dich heiße ich gut. So entwickelt das Kind den Blick für sich selbst. Dann entsteht das Gefühl, ich bin gut und muss mich nicht präsentieren und selbst darstellen.

Welt am Sonntag: Muss ich als Narzisst eine robuste Seele haben?

Prieß: Im Gegenteil. Ganz viele Narzissten haben eine sehr sensible Seele. Aber es wird nicht das Drama erkannt, das hinter selbstverliebten Despoten steckt.

Welt am Sonntag: Kann man das Drama in einem Satz erklären?

Prieß: Der Narzisst flieht vor sich selbst, weil er den Eindruck hat, er ist nichts.

Welt am Sonntag: Warum wird eine egozentrische Persönlichkeit häufig negativ gesehen?

Prieß: Weil sie sich nur um sich selbst dreht, das Umfeld nicht wahrnimmt und nicht in der Lage ist, Beziehungen zu leben. Sie ist nicht begegnungsfähig. Leben ist Beziehung, und Beziehung ist Begegnung. Wenn ich mir selbst nicht begegnen kann, dann bin auch nicht in der Lage, den anderen Menschen zu begegnen. Im Gegenteil, meist muss ich sogar auf Kosten meiner Umwelt leben.

Welt am Sonntag: Wie kann mir geholfen werden, damit ich zu mir komme?

Prieß: Man muss versuchen, die Erfahrung, die damals im Elternhaus nicht gemacht wurde, nachzuholen.

Welt am Sonntag: Gibt es auch positive Seiten von Narzissmus?

Prieß: Nennen Sie mir eine positive Seite, die die Flucht vor sich selbst hat.

Welt am Sonntag: Durchsetzungsfähigkeit?

Prieß: Dazu kann ich nur mit den Schultern zucken.

Welt am Sonntag: Wieso?

Prieß: Was meinen Sie, wie durchsetzungsstark Sie sind, wenn Sie Sie selbst sind. Dann sind Sie nicht nur durchsetzungsstark, sondern in der Durchsetzung auch noch begegnungsfähig. Diese Kombination macht am Ende das Leben an sich aus.

Welt am Sonntag: Und wenn ich nur durchsetzungsstark ohne Begegnung bin?

Prieß: Dann passiert, was meistens passiert im Umgang mit einem Narzissten. Er hinterlässt verbrannte Erde.

Welt am Sonntag: Ist es nicht immer schwieriger, der zu sein, der man ist?

Prieß: Ja. Weil wir in einer Welt leben, die immer mehr Wert auf das Unwesentliche legt, den Superlativ fördert und in der Authentizität zunehmend verloren geht.

Welt am Sonntag: Woran erkennt man, das man bei sich selbst ist?

Prieß: Das ist eine Frage, die nur jeder für sich selbst beantworten kann, aber muss. Das Gefühl und die Sicherheit zu haben, ich mache mir nichts vor. Selbst diejenigen, die meinen, nur noch zu funktionieren, können Momente in ihrem Leben beschreiben, in denen sie eine innere Gewissheit spürten und ohne Zweifel sagen konnten, das ist richtig, das entspricht mir. Daran gilt es sich zu erinnern und einen Maßstab zu entwickeln, an dem man erkennen kann, das bin ich! Es gilt, das Gefühl für sich selbst wieder wachzurufen. Diejenigen, die ausbrennen, haben dieses Gefühl verloren.

Welt am Sonntag: Leben und verbrennen wir also in einer narzisstischen Gesellschaft?

Prieß: Ja. Wir sind auf dem besten Weg.

Welt am Sonntag: Wie können wir das stoppen?

Prieß: Indem wir uns dem Wesentlichen und dem Echten zuwenden. Das setzt immer voraus, dass wir uns den Grenzen des Lebens zuwenden. Dass wir uns der eigenen Begrenzung bewusst werden. Wir leben in einer grenzenlosen Gesellschaft, wo Grenzen als negativ bewertet werden. Dabei gehören Grenzen zum Leben. Wer das nicht erkennt, wird in seinem Leben nie ankommen, sondern sich im Superlativ erschöpfen.

Welt am Sonntag: Politiker kennen oft keine Grenzen, sind sie Narzissten?

Prieß: Das beantworte ich mit einer Gegenfrage. Haben Sie den Eindruck, dass unsere Politiker dialogfähig und begegnungsfähig sind?

Welt am Sonntag: Sehr oft, nein.

Prieß: Das ist Ihre Antwort auf Ihre Frage. Ich habe Ihnen vorhin meine Definition des Narzissten erklärt.

Welt am Sonntag: Gibt es einen männlichen und einen weiblichen Narzissmus?

Prieß: Ja. Beim männlichen Narzissmus sind es häufig die Karriere und der Sport. Der weibliche Narzissmus sucht seinen grenzenlosen Superlativ in dem Ausleben von: Ich bin für andere da. Die eigene Minderwertigkeit oder Ohnmacht wird darüber ersetzt, dass ich mich für andere unersetzlich mache. Das ist häufig auch in den sozialen Berufen zu finden und erklärt, warum Burn-out nicht nur in der Wirtschaft zu finden ist. Man fängt an, andere zu heilen, obwohl man selbst noch nicht heil ist – und erschöpft sich darüber.

Welt am Sonntag: Wie wichtig sind narzisstische Führungskräfte?

Prieß: Ich kann nur raten, keine Narzissten in die Führung zu holen.

Welt am Sonntag: Warum?

Prieß: Weil sie früher oder später die Teams verbrennen werden und dann nicht selten das Unternehmen. Wie soll jemand, der vor sich selbst auf der Flucht ist, andere in den Erfolg führen? Narzissten, die Teams führen, begegnen ihren Mitarbeitern nicht auf Augenhöhe und sind nicht dialogfähig. Am Ende bleibt ein Unternehmen zurück, in dem die Unternehmenskultur so kaputt ist, wie der Selbstwert des Narzissten.

Welt am Sonntag: Wie erkenne ich bei der Einstellung, ob einer Narzisst ist?

Prieß: Indem Sie prüfen, ob er dialogfähig ist und Ihnen auf Augenhöhe begegnet. Das setzt aber voraus, dass Sie selbst dialogfähig sind, Grenzen anerkennen und mündig sind – ansonsten besteht die Gefahr, dass Sie sich allzu gerne das Blaue vom Himmel versprechen und blenden lassen.

Welt am Sonntag: Und warum bekommen Narzissten, die erfolgreich sind, einen Burn-out?

Prieß: Weil sie auf der Flucht vor sich selbst im Außen immer mehr, schneller, höher, weiter gehen müssen. Darüber hinaus kein Leben leben, was ihnen und ihrem Maß entspricht. Wer vor sich selbst flieht, kann sein Maß nicht kennen und nicht an der richtigen Stelle Ja oder Nein sagen.

Welt am Sonntag: Wir führen das Interview in Hamburg. Ist eine Großstadt ein gutes Revier für Narzissten?

Prieß: Zumindest ist die Burn-out-Rate hoch. Und da ein Burn-out dort entsteht, wo die Beziehung zu sich selbst verloren gegangen ist, könnte man sagen, dass hier viele Menschen ein Leben fern von sich selbst leben.

Welt am Sonntag: Leben deshalb so viele Singles in Hamburg?

Prieß: Das kann eine Ursache sein. In dem Moment, wo man sich selbst nicht begegnen kann, ist man auch nicht beziehungsfähig.

Welt am Sonntag: Wie begegne ich mir selbst?

Prieß: Indem Sie sich auf Augenhöhe in Ihren Stärken und Schwächen erkennen und zu dem stehen, wer Sie sind. Viele verlieren spätestens bei den eigenen Schwächen die Augenhöhe vor sich selbst.

Welt am Sonntag: Muss ich regelmäßig mein Spiegelbild betrachten?

Prieß: Ich antworte mit einer Gegenfrage. Gibt es in Ihrem Leben Momente, wo Sie den Eindruck gehabt haben, das bin ich – ohne Zweifel?

Welt am Sonntag: Absolut. Wie jetzt im Augenblick. Da bin ich so, wie ich bin.

Prieß: Und wenn das so ist, überlegen Sie einmal, woher Sie das wissen, und versuchen Sie daraus einen Maßstab zu entwickeln. Jeder von uns hat solche Momente. Das ist unser inneres Maß. Das ist das Gefühl der Echtheit, der Harmonie.

Welt am Sonntag: Gibt es die Echtheit, die Harmonie auch bei Facebook und Twitter?

Prieß: Meines Erachtens wird dort die Beziehungsunfähigkeit gefördert. Beziehungen werden immer virtueller. Da wird sich selbst dargestellt und zum Teil grenzenlos entäußert – aber eine richtige Begegnung findet nicht statt. Es wird ohne Rücksicht auf Verluste über sich und andere informiert. Aber vor Ort, im echten Gegenüber, wird man immer sprachloser und nichtssagender.

Welt am Sonntag: Hatten wir eine richtige Begegnung?

Prieß: Wir sitzen uns jetzt gegenüber und sprechen miteinander. Von Angesicht zu Angesicht. Was würden Sie sagen – waren wir im Dialog?

Welt am Sonntag: Ich war mehr in mich verliebt …

Norbert Vojta ist Journalist und Honorarprofessor an der Hochschule für Musik und Theater in Hamburg. Seine Interviews erscheinen alle zwei Wochen.