Patrick Modiano gewann den Nobelpreis für Literatur, Siegfried Lenz starb: Das Literaturjahr 2014 war überaus ereignisreich und wird noch lange nachwirken.

Hamburg. Der Ständige Sekretär des Nobelpreis-Komitees war im Grunde ganz schön frech und gleichzeitig ehrlich, als er im Oktober den gerade mit dem höchsten literarischen Preis ausgezeichneten Schriftsteller Patrick Modiano in wenigen Sätzen charakterisierte. Man könne einen Modiano, sagte Englund sinngemäß, vor dem Abendessen und einen danach lesen. Klingt nach bekömmlicher Lektüre, nach der perfekten Romandosis. Nach nicht zu vielen Buchstaben für zu wenig Zeit.

Womit der Nobelpreis in diesem Jahr wirklich alle glücklich gemacht hätte: ein Franzose, der erinnerungssüchtig über Pariser Boulevards flaniert und in melancholisch angeditschte, aber sonst sehr geradlinige Sätze über Frauen, Männer und das Vergehen der Zeit schreibt. Das Ganze auf selten mehr als 170 Seiten, und diese dünnen Bücher lieben auch Literaturkritiker, denn auch sie mögen es so leicht wie Milchschaum auf dem Kaffee, den man sich zur Modiano-Lesestunde in einem viel frequentierten Café am Montparnasse oder in Eppendorf in den bereitwillig geöffneten Mund löffelt. Modiano lesen ist wie Coldplay hören. Geht immer und stört nicht weiter.

Was in diesem Literaturjahr störte, waren willkürlich vom Zaun gebrochene „Literaturdebatten“, die zu viel Bauchnabelprosa monierten oder die mangelnde Authentizität von deutschsprachiger Migrantenliteratur. Vielmehr war es so, dass die in die deutsche Sprachgemeinschaft eingewanderten Autorinnen 2014 buchstäblich fett ablieferten.

Die Hamburgerin Nino Haratischwili legte mit ihrer Georgien-Saga „Das achte Leben (Für Brilka)“ das wohl schwerste Buch des Jahres vor. Wie sie dort in tolstoischer Opulenz von den Weiten des Ostens erzählt und der Furcht vor dem russischen Dominator, das hat in seiner Konsequenz etwas Bewundernswertes. Als wolle der Roman sich die Hoheit über die Erzählbarkeit der Welt zurückholen von den TV-Serien, die alle nur noch am Schauen sind.

Haratischwili erzählt so ausufernd und ausdauernd, mit Mut zum Seifenopernhaften, als sei die Konzentrationsfähigkeit nie von all den Internetklick-Verführungen sturmreif geschossen worden. Eine Bekenntnis zur Schwarte legte auch die Amerikanerin Donna Tartt ab, der mit der Abenteuergeschichte „Der Distelfink“ ein anspruchsvoller, mehr als 1000 Seiten dicker Bestseller gelang: Auch er lud zum „Binge Reading“ ein. Einfach mal ein ganzes Wochenende nur lesen, ohne abschalten!

Literaturjahr 2014 hatte Faible für das Dokumentarische


Zwei weitere Neudeutsche, die 2014 Kritiker und Lesepublikum gleichermaßen überzeugten, sind Katja Petrowskaja (mit ihrer literarisierten Schoah-Recherche „Vielleicht Esther“) und Saša Stanišić. Letzterer schmückt die Literaturszene Hamburgs, weil er mit seinem uckermärkisch-versponnenen Nachwenderoman „Vor dem Fest“ den Preis der Leipziger Buchmesse gewann – das Warten hat sich also gelohnt, Stanišić ließ sich viel Zeit mit seinem zweiten Roman.

Olga Grjasnowa, auch sie eine Einwanderin, war schneller: Für ihren zweiten Roman „Die juristische Unschärfe einer Ehe“, der die kreativ-amouröse Achse Berlin – Baku beschreibt, gebührt ihr mindestens die Auszeichnung, den besten Buchtitel der Saison gefunden zu haben. Grjasnowa gewann 2012 als Debütantin den Klaus-Michael Kühne-Preis – was an dieser Stelle umgangslos zum diesjährigen Preisträger Per Leo führt, der ähnlich wie Petrowskaja Familiengeschichte aufarbeitete. Freilich von der anderen Seite der Zivilisationskatastrophe, auf der die Täter standen.

Das Literaturjahr 2014 hatte also ein Faible für das Dokumentarische, das Harbour Front Literaturfestival für die Selbstbescheidung bei gleichzeitiger zeitlicher Ausweitung der Literaturzone: weniger Veranstaltungen, längere Festivaldauer. Die gewollte Verschlankung im Programmbereich soll künftig, hört man, beibehalten werden. Was die Aufgabe für die Festivalmacher nicht einfacher macht. Nach dem Aus der Vattenfall-Lesetage ruht die Last der festivaligen Inszenierung von Literatur nun ganz auf Harbour Front – der Erwartungshaltung konnte das Literaturfest dann auch nicht ganz gerecht werden.

Die zweite und seit Langem vergebene Hamburger Debütantenauszeichnung ist der Mara-Cassens-Preis: Er geht (die Verleihung ist am 8.1. im Literaturhaus) an Regina Scheer und ihren DDR-Roman „Machandel“. Nicht, dass es je einen Mangel an literarischen Bearbeitungen von DDR-Stoffen gegeben hätte; aber in diesem Jahr, dem 25. nach dem Mauerfall, lief das Sujet zu ästhetischer Hochform auf. Der vor allem als Lyriker tätige Lutz Seiler bekam für seinen Aussteigerroman „Kruso“ den Deutschen Buchpreis.

Für Hamburg war 2014 ein Jahr des Verlustes


Eine verdiente Ehre für ein stilistisch hochgeschraubtes Werk, in dem die ziemlich widerliche Erscheinung eines „Molch“ genannten Pfropfen, der sich aus den Ausflüssen des Gaststättenabwassers speist, ausführlich beschrieben wird. Seiler wurde viel gelobt und gelesen in diesem Jahr. Angesichts des sich selbst genügenden Eskapismus, der seine Entsprechung in der Handlungsarmut findet – was will man auf einer Insel schon groß machen –, darf man sich aber schon fragen, welches Schicksal „Kruso“ beschieden sein wird. Wird man den Text bei einer Re-Lektüre erst richtig genießen? Oder bald vergessen?

Was das literarische Hamburg angeht, war 2014 ein Jahr des Verlustes. Im Oktober starb Siegfried Lenz, sein Erbe ist gewaltig – er hatte es bereits im Frühjahr geordnet. Sein persönliches Archiv geht nach Marbach ans Literaturarchiv, eine von ihm noch ins Leben gerufene Stiftung unterstützt die Philologie, und der Siegfried Lenz Preis wurde im November im Rathaus das erste Mal vergeben. Es ist ein wuchtiger Preis, mit 50.000 Euro einer der höchstdotierten im deutschen Sprachraum. Er hatte Mit Lenz-Freund Amos Oz einen würdigen ersten Empfänger.

Von Hamburg erzählt 2014 keiner schöner als Michael Kleeberg in seinem Roman „Vaterjahre“, er tut dies aber nur fast so liebevoll wie Ulla Hahn vom Rheinland. Dort stammt die Wahlhamburgerin her, und von dort erzählt sie jetzt schon im dritten Band („Spiel der Zeit“) ihrer fiktiven Autobiografie. Was das mehr oder minder verhüllte autobiografische Erzählen angeht, wurden in der jetzt ablaufenden Buchsaison unbedingt zu lobpreisende Projekte fortgeführt: Karl Ove Knausgards berichtet in „Leben“ weiter schonungslos offen, tränen- und bierreich von den Leiden eines jungen Durchschnittsnorwegers (ihm selbst), Gerhard Henschel dagegen, der sehr komische Anti-Knausgard, führt in „Bildungsroman“ seine Martin-Schlosser-Saga fort.

Dave Eggers war dagegen der erfolgreichste amerikanische Autor – und das ausgerechnet mit einem im Furor der Internet-Antipathie geschriebenen, sehr plakativen Roman, der den Titel „The Circle“ trägt. Man fragt sich ja immer noch, was hier satirisch, was alarmistisch, was hellsichtig ist – wahrscheinlich alles zusammen. Im Falle von Wolfgang Herrndorfs literarischem Vermächtnis ist die Einordnung dagegen ganz leicht. „Bilder deiner großen Liebe“ ist das schönste Buch des Jahres.