Die brandneue Ausgabe des ,,Ziegel“ versammelt auch etablierte Autoren wie Saša Stanišić. Für Kultursenatorin Barbara Kisseler ist das Jahrbuch ein ,,Schaufenster“. Unbedingt lesen.
Hamburg. Der „Ziegel“ ist eigentlich nicht zu übersehen, er fällt unter das Rubrum des klobigen Buchs. Deswegen ja auch der Name. Unverkürzt heißt dieses Buch „Hamburger Ziegel“ und hat fast die Maße des gleichnamigen historischen Backsteins, es versammelt seit mehr als 20 Jahren regelmäßig die besten literarischen Arbeiten der Hamburger Literaturszene in einem dicken Band, der völlig zu Recht den staatstragenden Untertitel „Hamburger Jahrbuch für Literatur“ trägt. Der „Ziegel“ ist gewichtig, in jederlei Hinsicht: Man kann ihn kaum halten beim Lesen.
Letzteres hingegen lohnt sich, und daran erinnert nun die druckfrische Ausgabe der neuen Ausgabe, der 14. mittlerweile. Vom Radar der großen Verlage werden viele Erzähltalente nicht unbedingt erfasst, andererseits lohnt für Literaturagenten die Lektüre der Stücke von um die 50 im „Ziegel“ versammelten Autoren: Das beweist etwa der Erfolg Karen Köhlers, deren Kurzgeschichte „Polarkreis“ im „Ziegel“ zu lesen ist. Köhlers Debüt „Wir haben Raketen geangelt“ erschien vor einigen Monaten im Münchner Hanser-Verlag und ist seitdem oft gelesen und beinah noch öfter gelobt worden. Angeschoben wurde die literarische Karriere der Hamburger Schauspielerin durch den Förderpreis der Kulturbehörde.
Der wird jährlich sechsfach vergeben und hat seinen Wert als Instrument der Literatur- und Literatenförderung längst bewiesen. Die „Ziegel“-Auslese wird zu einem großen Teil in der Beurteilung der Förderpreis-Einreichungen getroffen. Vertreten sind jedoch auch namhafte Autoren wie Ulla Hahn und Saša Stanišić – der Neu-Hamburger Stanišić glänzt mit einem Kapitel aus seinem preisgekrönten Roman „Vor dem Fest“.
Aber die wahren Entdeckungen in dieser empfehlenswerten und mit 700 Seiten dicker als je zuvor ausfallenden Sammlung sind die unbekannteren Autoren. Für sie ist, wie Kultursenatorin Barbara Kisseler im Geleitwort schreibt, der „Ziegel“ vor allem „ein Schaufenster“. Und in diesem Schaufenster präsentieren sich wie stets insbesondere die literarischen Formen, die in den Programmen der Verlage eine geringere Rolle spielen.
Knappere Prosa nämlich, vor allem die auf dem Buchmarkt bisweilen wenig geschätzten Kurzgeschichten, kommen im „Ziegel“ zu ihrem Recht – erfolgreiche Erzählungsbände wie der von Karen Köhler sind die Regel von der Ausnahme. Als Gattungen im „Ziegel“ seit je geschätzt werden auch Beiträge aus den Bereichen Lyrik, Essay, Reportage, Drama oder Hörspiel. Ganz auf Romanauszüge verzichten kann und mag das Kompendium indessen keineswegs; wäre es anders, käme dies einer einengenden formalen Beschränkung gleich.
Über Gattungsgrenzen hinaus funktioniert der „Ziegel“, dessen Vielstimmigkeit man nicht genug preisen kann, als etappenreiche Reise durch den literarischen Zeitgeist und seine Entsprechungen im wirklichen Leben. Über was und wen schreibt die neueste Gegenwartsliteratur made in Hamburg, welche Vorgänge, Ideen und Befunde, welche Marginalien, Schicksale und Befindlichkeiten nimmt sie in den Blick?
Nun, es geht jedenfalls um mehr als Trivialitäten, mag da auch der spionierende Protagonist in Wolfgang Denkels Abhör-Story „Schlafzimmergeräusche“ in einem Anfall von Berufsmüdigkeit ätzen: „Inzwischen wundere ich mich mitunter, wieso einer an seiner Banalität nicht stirbt, ohne jede weitere Todesursache“. Die Herausgeber Jürgen Abel und Wolfgang Schömel haben das üppige Textkonvolut in thematische Abschnitte unterteilt, die Texte und Schicksale in Ordnung und Unordnung, Traum und Albtraum, Glück und Unglück scheiden – unter anderem.
Wobei Glück und Literatur natürlich nie so recht zusammengeht: Glückliche Menschen schreiben nicht, und Geschichten vom Glück sind schneller auserzählt als solche vom Unglück.
Unglücklich ist zum Beispiel der Held in Herbert Hindringers Roman „Mutter steht kurz vor dem Kollaps, Vater liegt im Sterben“: Um die bleiern im Beziehungsalltag hängende Gewohnheit abzuschütteln, will dieser Held sich mit seiner Gefährtin den Freuden des Partnertauschs hingeben – als ob dann mit einem Schlag alles besser wäre. Gar nichts gut ist in Michael Weins’ Story „Feuer“, in der das teuflische Schuldgefühl einen Familienvater in sich zusammensinken lässt: Als das Nachbarhaus brennt, schreckt er vor den Flammen zurück. Ein alter Mann stirbt, der Erzähler denkt, er hätte versagt – mit wenigen Strichen skizziert Weins ein existenzielles Drama, an dessen Ende nur das eigene (Über-)Leben steht. Was bleibt, ist ein Moment der Scham.
Mit traurigem Blick schaut auch Katrin Seddig in ihrer ganz schön desillusionierten Kurzgeschichte „Shut up and sleep“ in die Welt: Ein kurzer Abriss über die Schlaflosigkeit, die Freundschaft und das Dasein als Mutter, das einen am Ende doch immer in aufrechter Haltung durch das Leben gehen lässt. Die kurzen Lebenskrisen kommen und gehen, aber man kommt drüber weg, und irgendwann schläft man auch wieder. Die herrlichste Szene aber birgt eine ganz eigene Tragik: Als eine Frau am Tresen ihrem Alkoholkonsum Tribut zollen muss, sinkt sie ermattet nieder.
„‚Mann‘, sagte sie selbstkritisch, als sie unten anlandete“.
So sieht Scheitern aus.
Ziegel 14. Dölling und Galitz Verlag. 745 S., 14,80 Euro