Der Neu-Hamburger Saša Stanišić legt endlich seinen neuen Roman „Vor dem Fest“ vor. Er ist für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert, der morgen vergeben wird.

Hamburg. Am Morgen war Saša Stanišić laufen. Er ist jetzt lange genug in der Stadt, um zu wissen, dass man in Hamburg um die Alster joggt, wenn man zum einen fit sein und zum andern was geboten bekommen will. So rein optisch, Läuferidyll in urbaner Umgebung und so. Aber er ist noch nicht lange genug in der Stadt (knapp anderthalb Jahre jetzt), um jede Ecke zu kennen. Er hat nämlich zuletzt eigentlich nur geschrieben, sein Roman musste endlich fertig werden. Sein zweiter, der Nachfolger des gefeierten Debüts. „Wie der Soldat das Grammofon repariert“ wurde in 30 Sprachen übersetzt. Das Buch war ein Hit, Stanišić schnell der Shooting-Star der Literaturszene.

Acht Jahre ist das jetzt her.

Das ist auch in der Erzählbranche, in der Inspiration eine harte, aber knappe Währung ist, eine lange Zeit. „Ich wollte es lieber gut als schnell machen“, erklärt Sasa Stanišić, und damit ist dann auch schon alles dazu gesagt, fast zumindest. Denn er musste dann halt doch mal fertig werden, das fühlte er selbst. Und nun, wo es geschafft ist, kann er also Hamburg kennenlernen, „genießen“, wie er es nennt. Es ist die Zufriedenheit des Romanciers, der ein Buch abgeschlossen hat, die Stanišić ausstrahlt, als wir ihn im Café Hadleys treffen. Das liegt in Eimsbüttel und quasi in der Nachbarschaft, er arbeitet hier gern oder trifft sich mit Interviewern. Und die wollen ihn jetzt alle treffen, denn man muss diesen Stanišić immer auf dem Zettel haben. Egal, wie lange er weg gewesen ist. Sein neues Buch heißt „Vor dem Fest“ (Luchterhand), ist ganz anders als der Vorgänger – und eine wunderbare Lektüre. Das fanden auch die Juroren des Leipziger Buchpreises. Den kann Stanišić am Donnerstag gewinnen, am ersten Tag der Messe. Er steht im Finale.

Aber was bringt’s, darüber jetzt zu reden, was wäre, wenn er ihn bekäme. Stanišić sagt nur so viel: „Eine schöne Überraschung, dabei zu sein“. Es ist schwierig zu sagen, wie gut man jemanden kennenlernen kann, wenn man zwei Stunden zusammensitzt. Stanišić ist 36, gerade geworden, er wirkt selbstbewusst, das schon, vor allem jedoch bescheiden. Das kann nicht gespielt sein, und deswegen erinnert man ihn jetzt nicht daran, dass ein Auszug aus seinem neuen Buch bereits mit dem Döblin-Preis ausgezeichnet wurde.

Weshalb also für alle anderen als den Autor selbst die Leipzig-Nominierung nun keine wirkliche Überraschung ist. Weil beide Geschichten gut sind, die im Buch und die in der Wirklichkeit. Saša Stanišić ist, das kann man sagen, einer der interessanteren Typen im Kulturbetrieb. Einer mit einem Schicksal, der was erlebt hat. Etwas mit existenziellem Gewicht. Stanišić wurde 1978 in Višegrad geboren. Er wuchs in Bosnien auf, bis der Jugoslawien-Krieg seine Heimat erreichte. Mit 14 übersiedelte die Familie nach Deutschland.

Und das ist der Grund, warum die Eltern Stanišićs die Bücher ihres Sohnes erst dann lesen können, wenn sie auf Englisch erscheinen.

Es ist eine Migranten-Geschichte, in denen die Lebenswege von Vater, Mutter und Sohn festgehalten ist. Der junge Saša ging in Heidelberg zur Schule, machte sein Abitur, nachdem er schnell Deutsch gelernt hatte. Als seine Eltern im Jahr 1998 weiter ziehen, nach Amerika, bleibt er in Deutschland. Er hatte eine Freundin in Heidelberg, war verliebt, studierte Deutsch und Slawistik, dachte, dass zum Erwachsenwerden die Emanzipation von den Eltern gehört. Seitdem sieht er sie nur besuchsweise, bei Familientreffen in Bosnien etwa. Oder in Amerika, gerade war er wieder in Florida. Natürlich redet er mit seinen Eltern in der Sprache der Heimat. Deutsch? Können sie schon, ja, aber nicht so, um entspannt die Bücher und Erzählungen Sašas zu lesen. Das ist schon traurig, ein bisschen, sagt er.

Und es ist eben nicht normal, sondern außergewöhnlich: Dass hier einer in Sprache reüssiert, die nicht seine eigentliche ist. In Florida war Stanišić auch, um noch einmal Kraft zu schöpfen, denn jetzt – und vor der Hamburg-Wellness, die er sich vorgenommen hat, siehe oben – geht der Literaturwahnsinn los. Man muss ja auch seine Nase zeigen in den Literaturhäusern des Landes. 50 Lesungen hat er vor der Brust. Und 300 bereits hinter sich, international, denn er war auf Welttournee mit dem „Soldaten“, so nennt Stanišić sein erstes Buch.

Es ist dann irgendwann Zeit, über Immigrantenliteratur zu sprechen. Ganz grundsätzlich. Denn Stanišić war, in Absenz, er weilte ja in Übersee, Gegenstand einer durchaus hitzig geführten Debatte. Der in Prag geborene und als Teenager in Hamburg lebende Autorenkollege Maxim Biller, ein so kluger wie streitbarer Zeitgenosse, machte ihn wortgewandt von der Seite an und schimpfte, weil Stanišić nun plötzlich nicht mehr über Neudeutsche, sondern „Urdeutsche“ schreibe. Er passe sich damit dem Diktat der Literatur-Allmächtigen an, der Preisvergeber und Rezensenten, sagte Biller sinngemäß.

Was er fordert? Ungefähr das: Literatur, die von multikulturellen Erfahrungen kündet; Zwischenwelten, nix Boden, nix Scholle.

Und um was es in Stanišićs neuem Roman „Vor dem Fest“ geht: Ein Dorf in der Uckermark (genau, Angela Merkel) bereitet sich auf das traditionelle „Annenfest“ vor. Viele Wendeverlierer hier, wenig junge Leute, wenig Amüsement, aber viele alte Geschichten. Aber jetzt kommt’s – wenn Stanišić in die Sagenwelt des fiktiven Ortes Fürstenfelde, das in Wirklichkeit Fürstenwerder heißt, eintaucht, dann findet er dieselben Erzählungen wie in Bosnien. Urdeutsch? Quatsch, sagt Stanišić. Am Ende erzählen sich alle die gleichen Geschichten.

Man könne, er wird jetzt sehr ernst, auch nicht wegen einer bestimmten Herkunft Themen fordern, über die ein Autor zu schreiben habe. Stanišić spricht von „Bevormundung“ und „ethnischer Rolleneingrenzung“; „das habe ich so in den 22 Jahren, die ich jetzt in Deutschland bin, noch nicht erlebt“. Soll ein schwarzer Autor irgendwo in Mississippi nur über seine eigenen Leute schreiben, wer immer die auch sind? Was wäre uns entgangen, hätten Conrad, der gebürtige Pole, und Nabokov, der gebürtige Russe, nie auf Englisch über andere Dinge als die ihrer Herkunftswelt geschrieben. Stanišić schüttelt mit dem Kopf.

Er hätte sich es übrigens leicht machen können. Nicht Uckermark, sondern Bosnien und Deutschland als Spielorte. Wie im „Soldaten“. Die modernen Menschenwanderungen über den Planeten, wo viele nicht mehr da sterben, wo sie geboren sind, stehen global auf der Agenda. Er hätte wieder um die Welt jetten können mit seiner Migranten-Literatur. „Ich werde mit dem neuen Buch bestimmt nicht so viel internationalen Erfolg haben“, sagt Stanišić.

Seine Eltern überlegen übrigens, wieder nach Europa zu ziehen. Familienzusammenführung durch Verkürzung der Distanz. Als er das letzte Mal bei seiner Großmutter in Višegrad war, fand er ein paar Kladden mit den literarischen Versuchen seines Vaters. Da kommt das also her, dachte er da. Aber eher ironisch als pathetisch. Für seine Eltern war es damals schwer in Deutschland, schwerer als für ihn, der das Land jetzt seine Heimat nennt. Deutscher, rein passmäßig, ist er erst seit kurzem. Er hat in Süddeutschland gelebt, in Leipzig und Berlin, er kennt sich aus in der Republik und wird bestimmt bald Ehrenbürger der Uckermark. Dort hat er ja wochenlang recherchiert, sich unter die Leute gemischt. Klar, dass ihn ein Pfarrer zu einer Lesung einlud kürzlich.

„Ich würde mich“, schrieb der, „über eine Zusage freuen und all die Uckermärker auch“.