Die „Tatort“-Folge „Im Schmerz geboren“ mit Ulrich Tukur bricht mit Fernseh- und Krimitraditionen – und ist schon deshalb großartig. 47 Menschen müssen in 90 Minuten sterben.

Bolivien 1982. Ein Mann richtet eine Waffe auf jemanden. Doch es ist nicht zu erkennen, wen er bedroht. Ein Erzähler (Alexander Held) führt den Prolog weiter und kommentiert wie in einer griechischen Tragödie oder einem Drama von Shakespeare das Geschehen, auch das zukünftige. „Uns Narren dieses Schauspiels bleibt nur der Trost des Jenseits“, prophezeit er in theatraler Sprache. Schon der Beginn der neuen „Tatort“-Folge „Im Schmerz geboren“ bricht mit allen Regeln der herkömmlichen Sonntagabend-Krimiunterhaltung.

In den folgenden 90 Minuten erlebt der Zuschauer ein wuchtiges Rache-Drama, an dessen Ende 47 Menschen ihr Leben gelassen haben, so viel wie nie zuvor in einem „Tatort“. Der Regisseur Florian Schwarz und der mit ihm befreundete Autor Michael Proehl haben dieses außergewöhnliche Spiel in Szene gesetzt. Beim Münchner Filmfest erhielten sie dafür den Fernsehpreis. In der Jurybegründung heißt es, es handele sich um „zukunftsorientiertes Fernsehen, das die Zuschauer in vielerlei Hinsicht aufregen wird“.

Proehl und Schwarz zitieren in ihrem Fernsehkrimi Kinogeschichte. In einer der ersten Szenen warten drei junge Burschen an einem verlassen wirkenden Bahnhof auf die Ankunft eines Zuges. Die Sonne brennt herab, sie ziehen ihre T-Shirts aus, zeigen ihre tätowierten muskulösen Oberkörper und hantieren mit ihren Waffen. Der Zug hält. Nach einer gefühlten Ewigkeit steigt ein Mann mit einem Koffer aus. Die Parteien mustern sich. Im nächsten Moment liegen die drei jungen Männer im Staub. Erschossen. Die Szene erinnert an Sergio Leones Italo-Western „Spiel mir das Lied vom Tod“, das Motiv des Fremden, der in seine Heimat zurückkehrt, wird benutzt.

Dieser Fremde heißt Richard Harloff (Ulrich Matthes) und hat jahrelang in Bolivien für Drogenkartelle gearbeitet. Er ist auch ein alter Freund von LKA-Ermittler Felix Murot (Ulrich Tukur). Beide haben vor 30 Jahren die Polizeiakademie besucht, gingen zusammen durch dick und dünn und hatten eine Ménage-â-trois“ mit einer jungen Südamerikanerin namens Mariella. Wegen eines Vergehens wurde Harloff von der Polizeischule geworfen und verschwand mit Mariella nach Bolivien. Jetzt ist er zurück.

Harloff überzeugt den Freund davon, dass er seine kriminelle Karriere beendet hat. Beobachtet von Elite-Polizisten sitzen sie im idyllischen Park eines Frankfurter Fünfsternehotels, trinken teuren Wein und schwelgen in Erinnerungen. Der den Zuschauer direkt ansprechende Erzähler kommentiert: „Im Laufe des Gesprächs musste Murot überrascht feststellen, wie er die Nähe eines Menschen genießen konnte, der den Großteil seines Lebens Tod und Verderben über andere Menschen gebracht hat.“

Doch schon bald wird ihm klar, dass Harloff für einen Rachefeldzug zurückgekommen ist. Doch einen Reim auf die Gründe kann Murot sich nicht machen. Erst recht nicht auf Harloffs Satz: „Du trägst die Schuld an allem, was passiert ist und noch passieren wird.“ Schwarz und Proehl spitzen ihre stilsichere und komplexe Geschichte extrem zu, das Finale ist blutig

Zwar bewegt sich dieser „Tatort“ weit weg von der Realität und typischer Fernsehästhetik, doch er bietet Hochspannung durch die Konfrontation der beiden Hauptfiguren. Matthes, Ensemblemitglied am Deutschen Theater Berlin und einer der besten Schauspieler seiner Generation, hat gegenüber Tukur den besseren Part, weil er den Bösen spielen darf. Sein Harloff ist ein umgänglich wirkender Mann, hinter dessen dunklen Augen der Wahnsinn lauert. Erst zum Ende des Films wird klar, dass er der Mann in der Eröffnungsszene ist und wen er da bedroht. Das Rätsel des Prologs wird gelöst, das Ende ist unausweichlich. Wie in jeder Tragödie.

„Tatort: Im Schmerz geboren“ So 20.15 Uhr, ARD