Am Mittwoch hat in Frankfurt die wichtigste Buchmesse der Welt eröffnet. Ein Rundgang durch eine Welt, die nach Aufmerksamkeit giert, ohne digitales Lesegerät und viel ausgiebigem Gequatsche.

Frankfurt am Main. Helmut Kohl, das weiß jetzt jeder, der in den vergangenen Tagen Zeitung gelesen hat, ist auch auf seine alten Tage ein streitbarer, manche würden sagen: ein durchaus lauter Mensch. Wenn man das hessische Idiom richtig versteht, ist es ja sogar so, dass Kohl jetzt ein Buch geschrieben hat, „wo er voll krass alle beleidigt“. So sagt es ein Mensch am Frankfurter Hauptbahnhof zu seinem Begleiter. Wie gesagt, wenn wir ihn richtig verstanden haben, vielleicht ging es auch um etwas ganz anderes.

Würde auch nur fast stimmen. Das Enthüllungswerk hat in der Hauptsache ja der erboste Ex-Biograf des Ex-Kanzlers geschrieben. Aber in etwa kommt’s hin, und wenn man anlässlich der Buchmesse, die derzeit in Frankfurt läuft, mal abseits der Literaturbeilagen-Leser in ICEs oder in Hamburger, Berliner und Frankfurter Straßencafés den literaturspezifischen Betrachtungen des Volkes hinterherlauscht, dann bleiben an diesem Punkt des Lese-Herbstes zu nennen: Kohl, Kerkeling, keine Ahnung.

Keine Ahnung, wer Lutz Seiler ist, soll das heißen: Die Damen und Herren aus der Kategorie der schönen Literatur sind ja selbst als Gewinner des Deutschen Buchpreises so ziemlich das Gegenteil der Unterhaltungstiere (vulgo: Rampensäue), die gewöhnlich Mattscheiben bevölkern und zum Beispiel auf den Namen Hape Kerkeling hören. Der ist Deutschlands vielleicht lustigster Entertainer und außerdem Bestsellerautor. Wir wollen es ihm durchgehen lassen, dass er mit seinem Kindheitserinnerungsbuch „Der Junge muss an die frische Luft“ derzeit einen Gutteil der Aufmerksamkeit abgreift, die eigentlich anderen gebühren sollte. Andererseits polieren Fernsehmenschen ja die Bilanzen der Verlage auf, und zur Logik der Buchbranche gehören immer auch die schwerer verkäuflichen Bücher. Am Piper-Stand gibt’s Kerkeling in Kisten. Hunderte von Exemplaren liegen da in ihren Behältnissen, und diese ziert jeweils das Konterfei Kerkelings. Der Mann hat es geschafft, auch literarisch.

Das Wer von Siegfried Lenz wurde millionenfach verkauft

Einer, dessen Werk auch millionenfach verkauft wurde, war Siegfried Lenz. Der Tod dieses großen Autors, der über mehr als ein halbes Jahrhundert zur kulturellen Grundausstattung Deutschlands gehörte, mischte gestern dem Gesummse in den Gängen, mischte der typischen Geräuschkulisse des Messegeschehens einen Moll-Akkord bei. Am Stand von Hoffmann und Campe, seinem lebenslangen Hamburger Verlag, haben sie ein großes Bild aufgehängt. Natürlich raucht Lenz Pfeife auf diesem Bild, der Text lautet schlicht: „Siegfried Lenz (1926–2014)“. Um diese unaufdringliche Würdigung aber tobt das pralle Messeleben, also die verteufelt typische Mischung aus smart-bebrillten Literaturagenten, aufgeregten Buchhändlerinnen und vergeistigten Pullunderträgern, denen die vergeistigte Sanftmut ins Gesicht geschrieben steht. Die meisten von ihnen reden – permanent.

Denn die Buchmesse ist ja in Wirklichkeit nichts anderes als eine Klassenfahrt, da wird nicht gelernt, da wird gegackert.

Anders gesagt, man muss sich jetzt mal nicht auf das Lesen konzentrieren, man darf einfach mal ausführlich quatschen. Und weil das Buch immer noch ein Renommierobjekt ist, ist vor der Self-Publishing-Bühne mit am meisten los; der Traum vom eigenen Namen auf einem Buchdeckel wird derweil ein paar Meter weiter zum Traum von einer zünftigen Mahlzeit. Auf der „Gourmet Gallery“ wird leibhaftig gekocht, Tatsache, denn das Kochbuch ist seit jeher eine ernsthaft in Betracht zu ziehende Kategorie in der Branche. Verkaufen sich immer, die Dinger. Und wer zu lange im Küchenwind steht, dem frisst der ein Loch in den Bauch. Bücher machen halt nicht satt, geistige Nahrung hin oder her.

Amazon lockt mit einem hauseigenen Verlag die Autoren

Beim Gang durch die Hallen kommt man auch bei Amazon vorbei, das seine durchaus nicht unpraktischen E-Reader auch in Frankfurt im Programm hat und außerdem mit seinem Self-Publishing-Angebot Autoren zum hauseigenen Verlag lockt – die wollen wirklich alles können da beim Internetriesen. Deshalb kündigte das größte Internetversandhaus des ganzen Universums wenig überraschend unlängst auch an, ein E-Book-Abosystem jetzt auch in Deutschland einzuführen. In Amerika gibt es das schon seit einigen Wochen.

Wenn man sich die Büchertürme und die Regalmeter, die an Wänden drapierten Bücher und die Auslagen so anschaut, dann muss man sagen: Die Amazon-Flatrate ist tatsächlich die glatte Antithese zu all dem Bücherglanz. Wenn sie sich durchsetzte, bräuchte man streng genommen auch keine Messe mehr, auf der sich die Literatur inszeniert, sondern könnte Branchenmeetings auch im virtuellen Tagungsraum abhalten – und an den Programmen der Verlage auf digitalen Wegen vorbeiflanieren. Zukunftsmusik!

Im Hier und Jetzt ist die Literatur eine sehr direkte Angelegenheit, für die man auf der Messe kein digitales Lesegerät benötigt. Wer sich hier auf dem Literatur-Kontakthof, im Dauerpalaver des Betriebs, tatsächlich hinsetzt und zwischen zwei Buchdeckeln versenkt (oder gedanklich im E-Reader verschwindet), der verfügt übrigens über eine teil-autistische Begabung der Extraklasse.

Hier fragen belesene Menschen andere belesene Menschen vor Publikum

Die Inszenierung des geschriebenen Wortes erfolgt auf der Buchmesse auch in seinem mündlichen Transfer: Bei den Instant-Lesungen auf unscheinbaren und manchmal sogar nur scheinbaren Bühnen. Manchmal steht da nämlich auch nur ein Mikro in der Gegend herum mit einem davor, der schnell mal etwas liest. An den größeren Hotspots fragen schlaue und belesene Menschen andere schlaue und belesene Menschen vor Publikum Dinge über das Schreiben und über das Lesen. Bei der „FAZ“ mit ihrem großzügig bürgerlichen Ambiente – manierliche Sitzgelegenheiten! – sieht man dann auch mal jemanden, der einen Lenz-Nachruf liest und mit einem Ohr Giovanni di Lorenzo zuhört, der vorne gerade sein neues Buch vorstellt.

Die wichtigste Buchmesse der Welt ist auch der größte Verköstiger von kleinen Lesehäppchen. Das Flying Food der Messehallen ist die ideelle Energiezufuhr für lange Messetage: Vielleicht schnappt man ja noch was auf, das bei den abendlichen Empfängen oder Diners gewinnbringend eingesetzt werden kann.

Was zu der Frage führt, ob eigentlich immer noch so viele Bücher an den Ständen geklaut werden wie früher. Damals versteckten lesesüchtige Studenten, wie sie Ulrich Raulff in seinem herzerwärmend nostalgischen Buch „Wiedersehen mit den Siebzigern. Die wilde Zeit des Lesens“ beschreibt, das Diebesgut in den Taschen langer Mäntel.

Ob früher auch schon die Auslegeware dieselbe war? In den Hallen der Frankfurter Buchmesse wandelt man über Teppichboden. Bei allem Gelärme aus allen Ecken und Enden geht man hier ganz leise.

Hätte ihm gefallen, dem Siegfried Lenz.