Am Sonntag feiert „Die Wilde 13“ in der Garage des Thalia Gaußstraße Premiere. Die Inszenierung von Rungregisseur Jan Gehler basiert auf dem gleichnamigen Dokumentarfilm über Wilhelmsburg.

Hamburg. All die Stadtplaner und urbanen Designer, all die Multikulti-Gutmenschen und Hipster-Kreativen, ja auch das Theater und die Medien, sie können ganz schöne Kletten sein. Nervig in ihrem fortwährend interpretierenden Redeschwall, überfürsorglich, aber zugleich auch faszinierend, verführerisch, irritierend. Zumal, wenn sie in Gestalt von Marie Löcker auf der Bühne stehen, die all diese Personen, Instanzen sowie deren Ideen in ihrem Spiel repräsentiert. Wie ein frei flottierendes Element bewegt sich die junge Schauspielerin durch die Garage, der kleinen Spielstätte des Thalia Theaters in der Gaußstraße. Ein Ort von sprödem Charme, in dem die Poesie umso schöner schillern kann. Und in dem schnell eine hohe Intimität entsteht. So wie an diesem Vormittag bei einer Probe zu „Die Wilde 13“.

Vielen Hamburgern ist der Titel vertraut. Die gleichnamige Dokumentation der Wilhelmsburger Kulturanthropologin Kerstin Schaefer und des Filmproduzenten Marco Antonio Reyes Loredo feierte auf dem Filmfest 2013 Premiere, lief im Anschluss mehrfach erfolgreich beim NDR und wurde zudem 500.000-mal in der Mediathek abgerufen. In dem Film wird der Metrobus 13, der quer über die Elbinsel fährt, zum roten Faden, um die Geschichten ganz verschiedener Bewohner zu erzählen. Und um den Wandel in Wilhelmsburg kurz vor dem Abschlussjahr der Internationalen Bauausstellung zu zeigen.

Nun macht das Vorhaben, eine Dokumentation auf die Theaterbühne zu bringen, zunächst stutzig. „Der Film ist letztlich die Eintrittskarte, um zu gucken, was die eigentlichen Themen sind“, sagt Jan Gehler. Der junge Regisseur sitzt vor Probenbeginn auf einer der Bierbänke auf dem Hof in der Gaußstraße. Ein Sweatshirt-Typ mit Mehrtagebart und freundlichem Blick. Gehler, 1983 in Gera geboren, ist Hausregisseur am Staatsschauspiel Dresden, wo er unter anderem die Uraufführung von Wolfgang Herrndorfs „Tschick“ inszenierte. Dass er nun als Nicht-Hamburger auf Wilhelmsburg blickt, empfindet er nicht als Nachteil. Die Themen seien mit jenen anderer Städte vergleichbar.

Bei Spaziergängen habe er erlebt, wie prägend das Inselbewusstsein ist

In der Theaterfassung zu „Die Wilde 13“, die die Autorin und Sängerin Olivia Wenzel geschrieben hat, wird die (Elb-)Insel zum Sinnbild für Isolation. Zur Folie für die Frage, wie Identität und Gemeinschaft entsteht. Bei Spaziergängen und Gesprächen in Wilhelmsburg habe er in den vergangenen Monaten immer wieder erlebt, wie prägend das Inselbewusstsein für die Bewohner ist, erzählt Gehler. „Selbst beim Döner-Essen bekam ich die Frage gestellt: Kommst du von hier?“, sagt er.

Auch mit seinen Darstellern besuchte er den Süden Hamburgs, um ein Gefühl für das Leben vor Ort zu bekommen. Er verteilte kleine Aufgaben, damit die Schauspieler „den Blick kriegen für das Spezielle“, wie Gehler es formuliert. So hatten sie etwa eine Stunde Zeit, um im Bus, beim Bäcker oder auf der Straße Gesprächsfetzen zu sammeln und daraus Gedichte zu schreiben. Und Gehler packt für seine Akteure noch weitere Inspirationsquellen „in den Rucksack“, wie er es nennt. Material, das das Spiel anfüllt. Das mitschwingt beim Sprechen. Dazu zählt unter anderem die Doku „Play Hard – Work Hard“ über subtile Mittel, die Effizienz in der Arbeitswelt zu steigern.

In der Probe in der Thalia-Garage wird jedenfalls deutlich sichtbar, dass „Die Wilde 13“ kein lokalkoloriertes Stück im „Linie 1“-Stil wird. Keine Bussitze, Haltestellen oder ähnliche Eins-zu-eins-Requisiten werden da zur Schau gestellt. Die Busbewegungen deuten die Schauspieler eher tänzerisch an, sie symbolisieren in ihrer Rhythmik eine eingeschworene Runde von Passagieren. Man kennt sich. Und man will seine Ruhe haben.

Der Bus ist eine Transit- und Zwangsgemeinschaft

Jasper Diedrichsen, Björn Meyer, Günter Schaupp und Marina Wandruszka geben eine Busfahrerin, einen Alten, einen Flüchtling, einen Jugendlichen. Marie Löcker drängt sich ihnen als Außenstehende auf. Sie will analysieren, sie hat eine Agenda, eine utopische Vorstellung vom Miteinander, die sie den Inselbewohnern aufdrückt. Auch körperlich. Die so Angefassten, sie müssen reagieren.

„Der Bus ist eine Transit- und Zwangsgemeinschaft. Und doch trägt jeder Geheimnisse mit sich“, sagt Gehler. Daher passt der Untertitel, den das Theaterstück hat: „Vom Sitzen auf angestammten Plätzen“. Ob die gewohnten Winkel verlassen werden, das wird die Premiere am Sonntag zeigen. Das Publikum jedenfalls darf ausdrücklich gängige Pfade verlassen. Wilhelmsburger können zur ersten Vorstellung um 16 Uhr per Busshuttle nach Altona fahren (Abfahrt: 15 Uhr S-Bahnhof Wilhelmsburg). Gäste der Gaußstraße wiederum können als Einstimmung auf die 20-Uhr-Vorstellung unter sachkundiger Begleitung im Bus einmal auf die Elbinsel und zurück reisen (Abfahrt: 19 Uhr in der Gaußstraße). Ein Perspektivwechsel. Eine Dynamik. Ein Versuch.

Die Wilde 13 Premiere So 21.9. (ausverkauft), Vorstellungen während der Saison (u.a. am 3.10., 4.10., 7.11.), Thalia Gaußstraße, www.thalia-theater.de