Nicolas Stemann inszeniert Elfriede Jelineks „Die Schutzbefohlenen“ mit Flüchtlingen der Lampedusa-Gruppe am Thalia Theater. Am Schluss gab’s viel Beifall – für das Thema und alle Mitspieler.
Hamburg. Keine Frage, es ist verdienstvoll, notwendig und wichtig, dass sich das Theater des Flüchtlingsthemas annimmt. Mehr als 50 Millionen Flüchtlinge, Asylsuchende und Vertriebene gibt es weltweit – so viele wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr.
Elfriede Jelinek hat mit „Die Schutzbefohlenen“ einen Text über Flüchtlinge, die in Europa Asyl suchen, geschrieben. Ein dicht gewebtes, assoziatives Konvolut. Sie orientiert sich dabei mit Flüchtlingschor, Rhythmus und Bittgestus an Aischylos’ antiker Tragödie „Die Schutzflehenden“, in der eine Gruppe von Frauen auf der Flucht aus Ägypten im griechischen Argos um Aufnahme bittet. Und an einer Protestaktion von Flüchtlingen in Wien, die die Scheinheiligkeit europäischer Flüchtlingspolitik vor Augen führen sollte.
Regisseur Nicolas Stemann inszeniert seit Jahren Jelinek-Texte am Thalia Theater, darunter „Ulrike Maria Stuart“ über die RAF oder „Die Kontrakte des Kaufmanns“ über die Wirtschaftskrise. Am Wochenende hatte seine Inszenierung von „Die Schutzbefohlenen“ Premiere im Thalia, mit Schauspielern und einem Chor aus knapp 30 wirklichen Flüchtlingen – weitestgehend Menschen, die zur Lampedusa-Gruppe in Hamburg gehören, die lange in einer Kirche Schutz suchte und nun verstreut über die Stadt auf Anerkennung des Flüchtlingsstatus hofft.
Nun ist es immer ein Problem, „echte“ Menschen auf der Bühne zu zeigen, schließlich werden im Theater zwar wahre Probleme verhandelt, aber eben nur stellvertretend. Eine befreundete Schauspielerin brachte es mal auf den Punkt, als sie gefragt wurde, ob sie in einer sehr realistischen Shakespeare-Inszenierung „echten“ Sex hätte. Sie antwortete: „Ja, und die Kinder bringen wir auch um.“ Realismus im Theater heißt objektive Betrachtung und nicht Realität. Naturalismus beschreibt eine dem Leben glaubwürdige Nachahmung, aber nicht das Leben selbst.
Sieht man nun die wirklichen Flüchtlinge auf der Bühne, kann man nicht anders, als sich vorzustellen, was wer hier wohl an Schrecklichkeiten erlebt und durchlitten hat. Man kann dem Text nicht seine ganze Aufmerksamkeit schenken. Und das ist schade. Schließlich geht uns das Thema alle an. Stemann wollte aber mit wirklichen Flüchtlingen arbeiten, das macht seine Inszenierung zwar authentisch, aber nicht wahrhaftiger.
Zu Beginn stehen Felix Knopp, Daniel Lommatzsch und Sebastian Rudolph mit ihren Texten unterm Arm auf der fast leeren Bühne, die der Regisseur entworfen hat. Rechts sind Flügel und Schlagzeug, hinten eine Reihe roter Plastikstühle, ein Schild auf dem „open“ steht und die Zahl 23.168. Später kommen noch Stacheldrahtverhaue hinzu. Die drei Schauspieler wechseln sich ab. „Wir würden über unsere Flucht erzählen, aber niemand will uns hören.“ Als der schwarze Schauspieler Ernest Allan Hausmann auftritt und sagt: „Ich komme aus Hamburg“, glauben sie, ihn nicht zu verstehen: „Was sagt er?“ Mit der dunkelhäutigen Schauspielerin Thelma Buabeng fremdeln sie anfangs, später gehört sie mit zu den Ausgrenzenden, die später wiederum mit den Flüchtlingen fremdeln.
Ein paar Gags, eine Menge Unperfektes und ganz viel Pathos werden gesprochen. Auch von Barbara Nüsse, die einmal fragt: „Wieso hat jetzt dieser Ausländer in der U-Bahn einen Sitzplatz und ich nicht?“ Das wiederholen die anderen dann noch mal in verschiedenen Dialekten. Man wundert sich über Anna Netrebko, die sofort eingebürgert wurde, wo andere jahrelang darauf warten müssen. Der Eindruck, dass Regisseur Stemann sich hier perpetuierend selbst zitiert, bleibt nicht aus.
Später erzählen Mitglieder aus dem Flüchtlingschor von ihren Schicksalen, aber eben nicht in ihrer eigenen Sprache, sondern im Jelinek-Sprech. Das ist besonders verstörend. Da, wo gewöhnlich Schauspieler mit Jelineks scharfzüngigen Assoziationen Künstlichkeit erzeugen, um Wirklichkeit zu reflektieren, sprechen nun die wirklichen Flüchtlinge eine Kunstsprache und wirken deshalb wie Kunstfiguren. Nur für Momente schafft diese Theaterkunst starke Bilder. Etwa dann, wenn Hilfspakete vom Bühnenhimmel fallen und die Flüchtlinge daraus Overalls ziehen, die sogar ihre Gesichter bedecken. So werden sie zur anonymen Masse, die sich nicht äußern kann, zu jenem Kollektiv, das Jelinek mit überindividueller Stimme zu Wort kommen lässt.
Mehr als das erzählt der 18-jährige Afghane, der im Iran aufgewachsen und in Hamburg ein guter Schüler ist. Oder die Journalistin, die im Iran gefoltert wurde. Immer, wenn man ein wahres Schicksal von Flucht, Vertreibung und Folter hört, ist man wirklich berührt.
Am Schluss gab’s viel Beifall – für das Thema und alle Mitspieler. Man hatte den Eindruck, die Zuschauer wollen zuhören.