Seit mehr als 30 Jahren ist der Hamburger Popkurs mit seinem Mix aus Theorie und Praxis sowohl Inspirationsquelle für angehende Musiker, Komponisten, Texter und Produzenten. Auch für Sängerin Miu.

Hamburg. Die Sterne, sie liegen außerhalb der eigenen Komfortzone. Danach zu greifen und einen zu erhaschen, erfordert Mut, Ausdauer und zudem so etwas wie glückliche Fügung. Einer jener Orte, an dem möglichst viele günstige Konstellationen erzeugt werden, ist der Hamburger Popkurs.

„Sollen wir den Refrain noch mal spielen?“, fragt Miu in den fensterlosen Raum hinein. Die blond gelockten Haare hat sie im Nacken hochgesteckt. Strahler werfen warmes Licht auf das Parkett des Studios in der Hamburger Hochschule für Musik und Theater. Neben der Tür ruhen zwei Gitarrenkoffer. Auf einem Tisch stehen Wasserflaschen und Sesamkräcker. Nervennahrung. Geistige Stärkung liefert ein Zettel, der an einem einfachen Metallschrank hängt: „When I’m good, I’m very good. When I’m bad, I’m better.“ Wenn ich gut bin, bin ich sehr gut. Wenn ich schlecht bin, bin ich besser. Ein süffisanter Ausspruch von Schauspielerin Mae West, den so mancher Musiker als Durchhalte-Mantra nutzen mag.

Timo Böcking hockt in Shorts und T-Shirt an seinen Keyboards. Er nickt Miu zu. Auch Gitarrist Max Barth an der Gitarre und Mathias Blässe am Schlagzeug stimmen zu. „Ja, alles klar, lass uns den Refrain noch mal machen.“ Die Musiker schauen sich an, setzen ein, und Miu singt mit kehliger Stimme von einem Monster in ihrem Kopf. Ein Song, den sie gerade erst geschrieben hat. Der noch mitten im Wachstum steckt. Der bei der 27-Jährigen jedoch kein zartes Pflänzchen ist, sondern satt wuchernder Soul.

Seit mehr als 30 Jahren ist der Popkurs mit seinem Mix aus Theorie und Praxis sowohl Inspirationsquelle als auch Treffpunkt für angehende Musiker, Komponisten, Texter und Produzenten. „Wir bilden keine Mucker aus, sondern bestenfalls eigenständige Acts“, sagt Anselm Kluge. Der 63-Jährige gehört zum Leitungsteam des Popkurs, er unterrichtet Bass, Groove und Bandcoaching. Entspannt sitzt er im Foyer der Hochschule. Eine Gruppe Studenten steht an der offenen Tür zum Garten, hinter dem die Alster liegt. Es hat gewittert. Gesprächsfetzen wehen heran. „Hast du an das Kabel gedacht?“ „Wann nehmen wir den Song auf?“ „Das Lied musst du dir unbedingt anhören.“

Soeben haben die Musiker ein Seminar zum Thema Internet-Management gehört. Da fielen Sätze wie: „Es klingt zwar furchtbar betriebswirtschaftlich, aber in diesem Raum sitzen 40 verschiedene Marken.“ Das Streben nach künstlerischer Freiheit trifft auf die Kunst, sich zu verkaufen. Von den Sternen auf den Boden der Tatsachen.

Vieles im Popkurs ist nicht nur eine Frage des Könnens, sondern auch des Zwischenmenschlichen, der Energie, der Balance. „Manchmal kann es sogar von Nachteil sein, wenn jemand zu gut spielt“, sagt Kluge. Das Perfekte, es kann langweilen. Zu improvisieren kostet jedoch Überwindung.

„Zuerst hatte ich Hemmungen, meine eigenen Sachen hier anderen zu zeigen“, erzählt Miu in einer Pause. „Aber Jane hat mich motiviert, ruhig auch mal im Akkord danebenzugreifen, um etwas Interessantes zu erzeugen.“ Mit Jane meint sie Jane Comerford, Gesangsdozentin und unter anderem wegen des Hits „No No Never“ mit ihrer Band Texas Lightning berühmtes Aushängeschild des Popkurs. Rund 20 feste Dozenten und noch einmal ebenso viele Gastdozenten zählen zum Team. Neben Instrumental- und Gesangsunterricht sowie Kursen in Bandarbeit, Komposition, Texten und Performance steht konkrete Arbeit im Studio auf dem Stundenplan, zudem Seminare über Musikbusiness, Management, Rechts- und Steuerfragen.

Im Studio gönnen sich Miu und ihre Musiker die Zeit, an Nuancen zu feilen. Immer wieder unterbrechen sie ihren Song, um dessen Struktur und Sound zu besprechen. Soll die Orgel im Refrain heller klingen? Kann die Gitarre ein wenig „Tarantino-Romantik“ vertragen? Und beim Übergang vom sachten Intro zur funkigen Strophe, soll das Schlagzeug da eher „motown-mäßig“ einsetzen? Taktgefühl ist gefragt. Für das Lied. Aber auch im Miteinander. Denn der Probenprozess ist fordernd. Doch die vier schaffen es, ihre Fachsimpelei immer wieder in Praxis münden zu lassen, ins Spiel, in den Song. Bestenfalls entsteht dann das, was Anselm Kluge schlicht Chemie nennt.

Während andere Ausbildungsstätten wie die Popakademie Baden-Württemberg mit großem Werbeaufwand ihre Programme vermarkten, funktioniert der Popkurs hanseatisch-unaufgeregt über Mund-zu-Mund-Propaganda. Eine Atmosphäre, die bereits Stars wie Judith Holofernes, Peter Fox oder Revolverheld beflügelte. 300 junge Musiker bewerben sich im Schnitt pro Jahr. „Wir sind froh, dass es nicht mehr sind“, sagt Kluge. Mit seinem Team wählt er in der ersten Bewerbungsrunde gut 100 Anwärter zum Vorspiel aus. Die Hälfte schafft den Weg in den Popkurs, der sich über Kursgebühren, einen Förderverein und Sponsoren wie den Veranstalter Eventim finanziert. Was da in der Hochschule mit 50 bis 60 Studenten pro Jahrgang an Potenzial und Stilen aufeinandertrifft, möchte Kluge vielfältig mischen. „Leute mit unterschiedlichem musikalischen Background zusammen spielen zu lassen ist eine große Quelle von Innovation. Denn es gibt viele, die bezogen auf ihr Talent auf dem falschen Trip sind“, sagt Kluge, lächelt weise und schiebt sich seine Baseball-Kappe zurecht. Sprich: Wenn ein Metal-Musiker mit einem Hip-Hopper einen Song schreibt oder ein Electro-Tüfftler mit einem Folk-Fan arbeitet, dann verlassen sie die Komfortzone. Und vielleicht rücken die Sterne dann ein Stück näher.

„Ich bin wegen des Popkurs nach Hamburg gezogen“, erzählt Drummer Mathias, der aus dem Münsterland stammt. Der 24-Jährige ist nicht der Einzige, der nach zweimal drei Wochen Intensivprogramm in Sachen Musik in der Hansestadt bleibt. Somit ist der Popkurs auch eine Qualitätskonstante für die Musikstadt Hamburg.

Eigentlich ist Mathias im Rock zu Hause. Eigentlich. Denn die Gruppe, die an diesem Nachmittag zum zweiten Mal zusammen probt, ist prototypisch für die Vermischung und zeitweilige Verwirrung, die sich Kluge für seine Studenten wünscht. Gitarrist Max spielt am liebsten Blues, Keyboarder Timo bevorzugt Funk und Jazz, Sängerin Miu fühlt sich dem Soul verbunden.

Die Chancen für die junge Hamburgerin auf dem Musikmarkt schätzt Routinier Kluge pragmatisch ein. „Wenn sich jemand so stark an einen Stil anlehnt, ist das zunächst nicht unbedingt originell. Aber es kann originell werden. Amy Winehouse etwa hat das toll hingekriegt. Es ist immer die Frage, ob jemand das Vorgestellte authentisch hinkriegt“, sagt der Musik-Professor.

Ein Testfeld für den großen Traum von der Künstlerkarriere ist das Abschlusskonzert am 7. August. Zwei Tage zuvor spielen alle Bandprojekte, die sich im Laufe des Popkurs gefunden haben, in einer zehnstündigen Marathonsitzung ihre neu geschaffenen Stücke vor. Auch Miu und Band hoffen, dass die Dozenten ihren Song für das große Finale auswählen. Miu ist sich sicher: „Am Abschlussabend werden Tränen fließen.“ Denn Popkurs, das sei wie sechs Wochen Klassenfahrt mit tollen Leuten, die Musik machen. Ein gutes Gefühl, ein guter Start. Das mit den Sternen kommt dann später. Hoffentlich.

Popkurs-Abschlusskonzert 7.8., 20.00,

Gruenspan, Große Freiheit 58, Eintritt: 7 Euro an der Abendkasse; Infos unter: popkurs-hamburg.de