Technikpanne bei „Tannhäuser“-Premiere – ein Augenzeugenbericht direkt von der östlichen Bühnenseite von Joachim Mischke
Um 16 Uhr Bayreuther Ortszeit beginnt alles ganz nach Vorschrift. „30 Sekunden, dann kannste, Carsten, und übrigens: guten Flug“, funkt der Inspizient Udo Metzner an den Chefbeleuchter irgendwo in der Tiefe des Klangraums. Ganz in Schwarz, tiefenentspannt, Therapeutenstimme, eine Mischung aus Buddha und dem dauerbekifften Dude aus „The Big Lebowski“. Metzner hat hier alles im Griff. Licht aus, Oper los, und während der diensthabende oberfränkische Feuerwehrmann im Setzkasten am Bühnenrand stoisch seine Gesichtszüge einrastet, hebt die „Tannhäuser“-Ouvertüre auch schon ab. In einem ebenso zauberhaften wie antiken Opernhaus, das es dank Richard Wagner so kein zweites Mal gibt auf der Welt: weil es steingewordener Größenwahn eines Komponisten ist, den fast nichts und niemand aufhalten konnte.
Axel Kober in Polohemd und Jeans, Generalmusikdirektor der Deutschen Oper am Rhein und auf seinem Sitz unsichtbar für das Publikum, bringt das Stück flott auf Betriebstemperatur und nähert sich zügig einer sehr routinierten Flughöhe. Auf einer dieser Sensationsimitat-Seiten im Internet stünde genau jetzt: Noch ahnt niemand, was gleich passiert.
Künstlerpech hatte die Bayreuther „Tannhäuser“-Inszenierung von Sebastian Baumgarten schon reichlich. Sie gilt seit ihrer wütend niedergebuhten Premiere 2011 als verunglückte, ungeliebte Altlast und wird deswegen mitsamt ihrer geschmacklosen Biogas-Anlage und dem restlichen Bedeutungsgewese nach diesem Sommer vorzeitig ausgemustert. Premieren-Maestro Thomas Hengelbrock, hauptberuflich Chefdirigent beim NDR Sinfonieorchester, hatte damals hingeworfen, weil ihn die Arbeitsbedingungen zu sehr nervten. Baumgarten versemmelte vor wenigen Monaten auch noch eine „Fliegende Holländer“-Adaption am Hamburger Schauspielhaus mit zuviel Regietheater.
Der Venusberg-Käfig hat sich in der Unterbühne verhakt
Vom behaupteten Weltniveau ist man hier ziemlich weit entfernt, es ist oft wohl eher gehobenes Stadttheater. Mit Imagedellen, die immer sichtbarer werden, seit es immer einfacher wird, an Karten zu kommen, und immer unklarer, wofür diese Festspiele stehen. Die „FAZ“ bürstete die beiden Wagner-Chefinnen gerade auf ihrer Seite 1 als „Inkompetenz-Team“ ab.
An diesem Freitag allerdings, bei dem mit wenig Spannung erwarteten Auftakt der Festspiele 2014, beschert der Opern-Abend nach wenigen Minuten als Überraschungspremiere einen dramatischen Maschinenschaden: Der Venusberg-Käfig fährt nicht aus dem Bühnenboden ins Rampenlicht. Er hat sich auf halber Strecke aus der Unterbühne heraus verhakt. Doch die Seilzüge auf seiner Oberseite ziehen weiter. Sie ziehen und ziehen an ihren Verankerungen, bis es zweimal kracht und einige Holzsplitter fliegen, bestens sichtbar für einige der 50 Gäste, die von Baumgarten als Extrapublikum auf beiden Seiten der Bühne zugelassen sind. So bekommt man dort, auf vergleichsweise gemütlichen Holzstühlen, ein Extraspektakel geboten, das einen Ehrenplatz in der üppigen Anekdotensammlung des Hügels verdient.
16.25 Uhr: Vorhang zu, Licht an. Große Verwirrung. Alle, von Landesspaßvogel Roberto Blanco bis Landesvater Horst Seehofer, werden vor die Türen geschickt. In den BR-Übertragungswagen beißen alle Aufnahmeleiter in ihre Mischpulte, weil niemand weiß, wie man aus dieser Livenummer herauskommt.
„Das kann jetzt nur die Katharina entscheiden“, befand Metzner in seinem Cockpit am Bühnenrand, kurz nachdem die Karambolage geschah. Torsten Kerl und Michelle Breedt, der Tannhäuser und die Venus des Abends, hatten bereits ungeplant auf diesen Käfig voller Kaulquappen-Statisten (warum auch immer, Baumgartens Idee) klettern und improvisieren müssen. Man kann sich schönere Situationen für Wagner-Interpreten vorstellen, als vor 1925 Menschen und offenen Radiomikrofonen im Allerheiligsten aller Wagnerianer so ungesichert aufs Drahtseil geschickt zu werden. So ist des Meisters Ansage „Kinder, schafft Neues!“ schließlich nicht gedacht gewesen.
Alles läuft, dachten alle, als der erste romantische E-Dur-Klang aus dem Graben auftauchte – zurücklehnen und genießen. Könnte doch ganz schön werden, wenn auch nur musikalisch. Denn direkt neben Metzners Fluglotsen-Pult bewahrheitet sich, was man von Sängern über den unwiederholbaren Bayreuther Klangzauber hört, den der Deckel über dem Orchestergraben hervorbringt: Die Streicher, ganz oben, kommen satt und strahlend, die Holzbläser dezenter aus dem Souterrain, das Blech aus dem tiefen Tutti-Keller, und im Saal soll das alles trotzdem toll klingen, obwohl die Dirigenten kaum eine Ahnung haben, wie sie das bei ihren Fast-Blindflügen anstellen. Und für Sänger ist es noch schwieriger, im Takt zu bleiben, erst recht bei großen Ensemblenummern. „Manchmal hat man das Gefühl, jetzt sind wir völlig auseinander, aber dann ist es im Zuschauerraum gut zusammen“, beschreibt der auch hier auf den Schwanenritter Lohengrin abonnierte Tenor Klaus Florian Vogt das örtliche Betriebsgeheimnis. „Wenn man pünktlich ist, ist man gern mal leicht vor dem Orchester. Wenn man woanders schon viel zu spät wäre, ist man in Bayreuth gerade richtig.“
Könnte ganz schön werden, dachten alle in ihren Smokings und Abendkleidern, als das süße Wagner-Gift der Musik subtil zu wirken begann. Bis es so laut kracht am Venusberg-Gebälk, dass später, zwischen Bratwurststand und Champagnertresen, sogar Gerüchte über Schüsse die Runde machen.
Als Metzner noch gegen das Trudeln der Bühnentechnik ankämpfen lässt (was aus zwei Meter Entfernung enorm heldenhaft wirkt), taucht Hausherrin Katharina Wagner in schwarzer Abendrobe in der Inspizientengasse auf, mit fassungslosem Blick, aber auch mit bissiger Entschlossenheit, die solche Situationen ins Nervensystem pumpen. Aus der Unterbühne hatte der Inspizient genügend schlechte Nachrichten in seine Kopfhörer bekommen, sodass nach sehr kurzer Beratung entschieden wurde: abbrechen, sofort, bevor Schlimmeres passiert. Marius Bolten, Leiter des Künstlerischen Betriebsbüros und damit Kummer gewohnt, kriegt ein Mikro in die Hand und wird von der Chefin vor den Vorhang geschickt.
17 Uhr, gut 30 Minuten Zwangspause später: neuer Anlauf zum ersten Akt, neues Glück, ungetrübt, hoffentlich. Metzner wirkt wieder wie die Ruhe selbst, sogar der rechte Fuß wippt schon wieder. Während die Selbstheilungskräfte des Festspielhauses professionell zu wirken beginnen, raunt der Herr der Dinge für den Chor, der in den Kulissen wartet, ins Mikro: „Bevor Gerüchte aufkommen: Die Bühne ist sicher und fest.“
In der Sitzgruppe Ost kommt in der ersten unfreiwilligen Pause ausgelassene Klassenfahrtstimmung auf. Abendgarderobe, flache Schuhe für die Damen, Handys und Handtaschen mussten auf der Probebühne bleiben. Die Mischung ist bunt. Neben glühenden Wagnerianern mit klassischen Suchtsymptomen – einer wohnt nebenan in der Parsifalstraße und ist zum zehnten Mal in dieser Inszenierung – sitzt die Tochter eines Statisten. Ihr Vater, von Beruf Krankenpfleger im Justizvollzugsdienst, ist heute entweder Selleriesackschlepper oder Kaulquappe. Mit dabei ist auch die Tochter von Tannhäuser; als Torsten Kerl, Stunden später, nach dem Schlussapplaus abgeht, zwinkert er ihr kurz zu.
Das Licht einer Taschenlampe gibt den Chorsängern den Takt vor
Doch so weit ist es noch längst nicht. „Achtung, Kollegen, zum Schläuchezappeln“, befiehlt Metzner. Die Biogas-Anlage, in die Baumgarten seine Regie-Einfälle stellte, soll fast immer in Bewegung sein. Beim ersten Auftritt des Pilgerchors, der sofort für Gänsehautentzündung sorgt, ist durch die Lücken der Kulissen hindurch eine der rhythmisch wedelnden Taschenlampe zu erkennen, mit der die Chordirigenten der Masse Mensch zeigen, wo es langgeht. Nur ihrem Timing dürfen die Sänger gehorchen, wer jetzt in diesem Präzisionsdurcheinander aus Stimmen und Akkorden den Zeichen des Dirigenten folgen würde, wäre schneller raus, als man „Hojotoho!“ rufen könnte.
19 Uhr, der zweite Akt beginnt. Die Aufführung hat wieder ihren Ruhepuls erreicht. Udo Metzner flötet: „Die Damen und Herren der Statisterie auf die Bühne, bitte“, die Damen in der Sitzgruppe Ost genießen inzwischen barfuß. Für „Freudig begrüßen wir die edle Halle“ muss der Brandmeister seinen Posten räumen, einer der Chor-Kopiloten zwängt sich in die Lücke.
Auf die kurze Distanz wirkt die Bühne ernüchternd künstlich und behält dennoch ihre Magie. Es ist egal, dass man die dicken Theaterschminke-Schichten sieht, wenn die Choristen zu ihrem Dirigenten nach links schielen. Es ist toll, wenn Camilla Nylund als Elisabeth an der Sitzreihe entlangrauscht, auf ihrem dramaturgisch bescheuerten Weg zum Sterben in die Biogas-Anlage, weil sie nicht mehr Camilla Nylund ist, sondern in ihrer Rolle.
Kober liegt fast in seinem Stuhl, ob wegen der Temperatur im Graben oder weil ihn die Klangwucht wegbläst, bleibt sein Geheimnis. Statisten laufen ins Bild. Auf den Rücken ihrer Kutten steht die Einar-Schleef-Frage „Wie viel Droge braucht der Mensch?“ An diesem Suchtzentrum, in diesem Augenblick mit knapp 2000 Menschen, die voll drauf sind, eine interessante Frage. Metzner hat so gute Laune, dass er hin und wieder leise mitbrummt.
3. Akt, Tannhäusers Schicksal nimmt seinen Lauf, die reparierte Unterbühne funktioniert inzwischen wieder. Camilla Nylund singt an der Rampe, allein und umarmt von der Aura des Saals, während Trockeneis-Nebel ins Parkett wabert. Markus Eiche lässt als Wolfram den Abendstern leuchten, den er besingt. Das Publikum ist mit ihm im Himmel. Und Metzner? Der arbeitet unverdrossen sein Technikpensum ab. „Versenkung aktiv“, befiehlt er, und obwohl niemand im Saal ihn hören kann, passiert genau das.
Angela Merkel hat sich das „Tannhäuser“-Regie-Elend erspart
22 Uhr. „In wenigen Minuten erreichen wir das Ende.“ Der Regisseur steht deswegen bereits in der Inspizientengasse. Buhrufe abholen, wie bei jeder Vorstellung. Als alles vorbei ist und alles heil geblieben ist an diesem Ausnahme-Abend, treibt eine Mitarbeiterin Solisten, Chor und Statisten nach einer penibel festgelegten Choreografie für den Applaus ins Rampenlicht. In der Luft liegt eine Mischung aus Schweiß, Adrenalin und vor allem: unmittelbarer Glückseligkeit.
Auf dem Weg zurück zu den Handtaschen, Schuhen und Handys ist die Sitzgruppe Ost unisono der Meinung, dass wir unter diesen verschärften Umständen unser Bayreuth-Debüt doch sehr anständig über die Bühne gebracht haben. Wenig später, auf dem traditionellen Staatsempfang, erntet der Seehofer Horst bei seiner Rede Szenenapplaus für seine feixend vorgelesene SMS an Angela Merkel, die sich das „Tannhäuser“-Regie-Elend erspart hatte: „Kaum bist du nicht da, funktioniert nichts mehr.“