Das Bucerius Kunst Forum zeigt eine Ausstellung mit etwa 130 druckgrafischen Werken des Mitbegründer des Künstlergruppe „Brücke“. Sie stammen aus mehreren Privatsammlungen.

Hamburg. Andere Künstler ließen ihre Grafik drucken, Ernst Ludwig Kirchner (1880–1938) machte es allein. Wenn er Holzschnitte, Radierungen und Lithografien schuf, behielt er den gesamtem künstlerischen Prozess selbst in der Hand: von der Arbeit an der Platte, dem Auftragen der Farben über den eigentlichen Druck, den er immer wieder variierte und veränderte, bis hin zum nachträglichen Bearbeiten der Blätter. Kein anderer expressionistischer Künstler hat ein so umfangreiches druckgrafisches Werk hinterlassen wie Ernst Ludwig Kirchner, dem das Bucerius Kunst Forum seine aktuelle Ausstellung widmet. „Kirchner. Das expressionistische Experiment“, heißt die Schau, in der ab Donnerstag etwa 130 Holzschnitte, Radierungen und Lithografien zu sehen sind, die durch wenige Gemälde ergänzt werden. Sie stammen aus einigen Privatsammlungen, zum allergrößten Teil jedoch aus dem Bestand des Brücke-Museums Berlin.

Für Kirchners Leben spielt Hamburg keine herausragende Rolle, wohl aber für die Pflege seines künstlerischen Werks, denn es war der bedeutende Hamburger Sammler und Kunstexperte Gustav Schiefler (1857–1935), der 1926 den ersten Band des Werkverzeichnisses der Grafik veröffentlichte. Und mit Günther Gercken ist es wiederum ein Hamburger, der das aktuelle Werkverzeichnis der Druckgrafik erarbeitet, dessen ersten beiden Bände im vergangenen Jahr publiziert worden sind. „Bei seiner Arbeit hat Herr Gercken Briefe ausgewertet, die einen neuen Blick auf Kirchners Beschäftigung mit der Druckgrafik erlauben“, sagt Ortrud Westheider, die Direktorin des Bucerius Kunst Forums. So habe Kirchner die Steine für seine Lithografien immer wieder neu verwendet und auch bei Umzügen mitgenommen. Aufgrund von kleinen, auf den Transporten entstandenen Beschädigungen könne man nun bestimmte Abfolgen und Datierungen vornehmen.

Kirchners Kunst liegt in diesem Sommer gewissermaßen in der Luft: So zeigt ihn das Staatliche Museum Schwerin ab 7. Juli im direkten Vergleich mit Jan Wiegers, dem Mitbegründer der niederländischen Künstlergruppe „De Ploeg“. Und die Münchner Pinakothek der Moderne beschäftigt sich unter dem Titel „Farbenmensch Kirchner“ mit seinem experimentellen Umgang mit Farbe und Material.

Angesichts der Bedeutung, die die Druckgrafik im Gesamtschaffen des expressionistischen Künstlers einnimmt, ist es erstaunlich, dass es sich bei der aktuellen Schau überhaupt erst um die dritte Ausstellung zu diesem Thema handelt. Ortrud Westheider und Magdalena Moeller, die Direktorin des Brücke-Museums Berlin, haben die Ausstellung nicht chronologisch, sondern thematisch gegliedert, sodass sich das experimentelle Arbeiten des Künstlers und sein stilistischer Wandel jeweils an einem Motiv gut nachvollziehen lassen. Selbstbildnisse, Modelle, Badende, Mensch und Natur, Porträts, Großstadt-Motive und schließlich die Mappe zu Adelbert von Chamissos „Peter Schlemihls wundersamer Geschichte“ sind die Themen der Schau, die uns die enorme Wandelbarkeit des expressionistischen Künstlers vor Augen führen.

Welche Bedeutung die Druckgrafik seit dem späten 19. Jahrhundert erlebte, kann man zurzeit in der Kunsthalle anhand des Werks von Daumier und Toulouse-Lautrec nachvollziehen. Ernst Ludwig Kirchner, der 1905 gemeinsam mit Erich Heckel, Fritz Bleyl und Karl Schmidt-Rottluff die Künstlergruppe „Brücke“ gründete, war aber nicht an einer massenhaften Verbreitung seiner Blätter interessiert. Die meisten seiner Druckgrafiken hatte nur ganz geringe Auflagen, manchmal blieb es sogar bei einem einzigen Blatt. Als „Handdruck“ oder „Eigendruck“ bezeichnete er die Grafiken, für die er eine besonders expressive Formensprache fand. Die Anregung für die Druckgrafik kam weniger von der französischen Kunst seiner Zeit, sondern vielmehr durch die Begegnung mit mittelalterlicher Kunst, speziell mit der Grafik Albrecht Dürers, die er bei einem Nürnberg-Besuch im Dürer-Haus und im Germanischen Nationalmuseum intensiv studiert hatte. Tatsächlich erinnern manche Blätter, wie zum Beispiel das 1917 entstandene „Selbstporträt als Kranker“ an mittelalterliche Kunst. So zieht Magdalena Moeller sogar einen Vergleich zwischen der merkwürdig überdehnten Haltung des Zeigefingers mit dem Zeigefinger des Johannes auf Matthias Grünewalds Isenheimer Altar.

Im Frühwerk des Künstlers ist der Jugendstil mit seinen ornamentalen und floralen Formen noch prägend. Das zeigen eine ganze Reihe von weiblichen Akten, bei denen sich eine Verwandtschaft zur Grafik von Félix Vallotton erkennen lässt. Doch bald ändert sich der Stil, werden die Posen artefizieller, erscheinen die Modelle auch selbstbewusster. Nachdem Kirchner 1908 erstmals nach Fehmarn gefahren war, sah er in der Ostsee-Insel den Gegenentwurf zur Hektik der Großstadt. Die Töchter des Leuchtturmwärters, die er 1913 auf dem Holzschnitt „Fehmarnmädchen“ porträtierte, wirken nicht weniger exotisch als manches Südsee-Motiv von Emil Nolde. Mit dem Wechsel aus dem eher beschaulichen Dresden in die Metropole Berlin, die Kirchner 1911 vollzog, wurde sein Stil dynamischer und expressiver. Und das spiegeln auch die Straßenszenen oder die Motive aus den Vergnügungsstätten wider. Besonders interessant ist, dass sich das Flächenhafte mancher Grafik später auch auf Gemälden wiederfindet. Wie viele seiner Künstlerkollegen hatte sich Kirchner freiwillig zum Militärdienst gemeldet, dem er aber weder physisch noch psychisch gewachsen war. Einem völligen Zusammenbruch folgten Kuraufenthalten in Sanatorien, 1917 konnte er schließlich ins schweizerische Davos übersiedeln, wo er sein bedeutendes Spätwerk schuf.

Eines der eindrucksvollsten Blätter der Ausstellung ist die 1914 entstandene handkolorierte Lithografie „Das Eisenbahnunglück“. Sie zeigt in einer chaotischen Szene eine aus den Gleisen geworfene Dampflokomotive, doch scheint hier bereits die Vorahnung der sich anbahnenden Kriegskatastrophe mitzuschwingen. Und so erinnert dieses Blatt an das berühmte, schon 1911 geschriebene expressionistische Gedicht „Weltende“ von Jakob von Hoddis, das mit den folgenden Zeilen auskling: „Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen / An Land, um dicke Dämme zu zerdrücken. / Die meisten Menschen haben einen Schnupfen. / Die Eisenbahnen fallen von den Brücken.

Kirchner. Das expressionistische Experiment. Bucerius Kunst Forum, Rathausmarkt 2, 29.5.–7.9., tgl. 11.00–19.00, do bis 21.00, Katalog 39,- Infos: www.buceriuskunstforum.de