Immer mehr Schüler klagen in Zeiten von G8 und Ganztagsschule über Stress und Überforderung. Aber wie war es früher? Erinnerungen an eine Schulzeit in den 60er-Jahren zwischen Wirtschaftswunder und Rebellion.
Es ist das Jahrzehnt, in dem die Menschen von A nach B streben. Die 60er-Jahre beginnen mit Adenauer und enden mit Brandt. Die Westdeutschen wollen nach einer verheerenden Geschichte nun die Welt als Freund „erobern“. Sie krabbeln mit ihren VW-Käfern über die Alpen nach Bella Italia. Für die Amerikaner ist die Welt nicht genug. Von A nach B bedeutet für sie der Flug von der Erde zum Mond.
In Hamburg wird eine Revolution an der Universität eingeleitet: Unter den Talaren soll der Muff von 1000 Jahren beseitigt werden. Die 68er-Generation probt den Aufstand. Es riecht in der Bundesrepublik, es riecht nach Veränderung. Es ist das Jahrzehnt einer mentalen Mobilmachung.
Im Fernsehen steckt ein gewisser Robert Lembke Fünf-Mark-Stücke in Sparschweine. Das tut er jedes Mal, wenn die Marianne und der Hans, die Annette und der Guido – vermutlich die ersten Menschen ohne Nachnamen im öffentlich-rechtlichen Fernsehen – partout nicht erraten, dass der Studiogast von Beruf Schornsteinfeger oder Bäcker ist, obwohl der doch eine typische Handbewegung gemacht hat. Dieses Quiz ist eine Ausstrahlung mit zeitgemäßer Ausstrahlung, eine Sendung ohne Sendungsbewusstsein. Sie soll der Unterhaltung der vollbeschäftigten Bevölkerung dienen. „Was bin ich?“ heißt dieses Format.
Und was bin ich? Schüler an einem humanistischen Gymnasium mit katholischer Lehrerschaft. Jesuiten, die im Schulgebäude wohnen, unterrichten Latein, Mathe oder Chemie, sogenannte weltliche Lehrer, die nicht dort wohnen, Altgriechisch, Physik oder Geografie. Letztere hebt sich vornehm von Erdkunde ab, doch geht es im Unterricht dann ebenfalls um Stadt, Land, Fluß – damals noch mit Eszett.
Lehrer der 60er-Jahre waren nicht krank. Burn-out wurde später erfunden
Die Schule ist eine reine Männergesellschaft, was sich sowohl in der Lehrer- als auch in der Schülerschaft ausdrückt. Die einzige Frau im Haus ist jene, die im Sekretariat herrscht. Und sie herrscht freundlich. Sie gibt den braunen Diercke-Weltatlas aus und die ewig vergilbten Logarithmentafeln. Alles mit Schulstempel. Und Namensnachweis. Und wehe.
Gemeinsamer Unterricht für Mädchen und Jungen – „Koedukation“ – scheint noch undenkbar. Willy Brandts Postulat „Wandel durch Annäherung“, eigentlich auf das Verhältnis von Ost zu West gemünzt, könnte auch für die beiden katholischen Gymnasien gelten (was später auch geschehen wird). Gibt es doch ein Pendant zur Jesuiten-Schule, ein katholisches Gymnasium nur für Mädchen. Ein außergewöhnliches. Eine Ordensschwester, eine Mutter Courage mit kabarettistischer Vergangenheit, leitet jene Schule gegen Ende des Jahrzehnts.
Aber gewitzt ist Schule damals nicht.
In der großen Pause verkauft der Hausmeister, der stets einen grauen Kittel trägt, Milch und Kakao in Tetraedern, spitzen, viereckigen Tüten. Einen Mittagstisch, eine Kantine gibt es nicht. Wozu auch? Nachmittags „ist keine Schule“.
Der Tagesablauf, besser Vormittagsablauf, ist übersichtlich. Um 8.30 Uhr klingelt es zur ersten Stunde, der spätere Anfangstermin im Vergleich zu anderen Schulen hängt damit zusammen, dass die Schüler nicht nur aus der unmittelbaren Umgebung, nicht nur aus Hamburg, sondern auch etwa von Ahrensburg oder Buchholz in der Nordheide kommen. Fünf Unterrichtsstunden pro Tag sind die Regellernzeit, um kurz vor eins ist Schluss. Dafür gibt es zunächst auch sonnabends drei Stunden. In den 60er-Jahren wird in der Wirtschaft nach und nach die 40-Stunden-Woche mit fünf Werktagen eingeführt. Damit entfällt auch der Schulsonnabend im Stundenplan, der Wochentag endet dafür um halb zwei.
Vertretungsstunden kommen so gut wie nicht vor. Ausfallstunden, was ist das denn? Lehrer der 60er-Jahre werden nicht krank. Ein Burn-out setzt allenfalls 50 Jahre später ein. Doch sollte es mal gar nicht gehen, ist eine Vertretung da. Das steht an keiner Tafel, an keinem schwarzen Brett, das wird nicht über Facebook gepostet. Der Vertretungslehrer kommt einfach in die Klasse.
Und wenn es mal eine Vertretung gibt, dann ist dies bisweilen spannender als eine reguläre Stunde. Beispiel: Im Jahr 1968 jumpt Dick Fosbury als erster Mensch rückwärts über die Latte beim olympischen Hochsprung. Das, was mir körperlich vorwärts wie rückwärts ohnehin ein unlösbares Problem ist, zeigt dieser Mann mit der Leichtigkeit eines Klappmessers. Der Physiklehrer erklärt in der Vertretungsstunde die damals aktuelle Sensation: Der Fosbury springt so, dass der Schwerpunkt des Körpers unter der Latte bleibt, während er beim üblichen Straddle-Stil darüber liegt. Sagen wir es mal salopp: Dick Fosbury springt – im Durchschnitt – unter der Latte durch. Hätte Physik nicht immer so faszinierend sein können?
Vieles an Wissen strahlt in dieser Zeit das immer noch junge Fernsehen aus. Dessen Programm enthält die Bildung, was dem Auftrag, den das öffentlich-rechtliche Fernsehen vom Gesetzgeber mitbekommen hat, entspricht. Ein freundlicher älterer Herr erklärt den Umgang mit dem Rechenschieber. Das ist ein Rechengerät, das nicht mehr benötigt wird, seit es elektronische Taschenrechner gibt.
Professor Heinz Haber beschreibt unseren Blauen Planeten, sinnigerweise in Schwarz-Weiß. Professor Bernhard Grzimek, der Mann im gelben Pullunder, führt dem Zuschauer possierliche Tiere auf seinem Schreibtisch im Fernsehstudio vor (das interessanteste Tier überhaupt, die Steinlaus, war nicht dabei, sie wird erst ein Jahrzehnt später von Loriot entdeckt). Der Professor sagt, was es mit der Serengeti auf sich hat. Die liegt irgendwo in Afrika. Also weit weg, und doch in unserer Welt. Wir erkunden die Horizonte neu. Und gehen an Grenzen.
Der Tanzkurs mit Abtanzball war für alle Schüler obligatorisch
Was sich schon in der Tanzstunde zeigt. Die Füße stoßen permanent an Hindernisse, sagen wir besohlte Kollisionspunkte. Das Ehepaar Fern gibt im Fernsehen zwar Fernunterricht im Tanzen. Den obligatorischen Tanzkurs mit Abtanzball ersetzt er jedoch nicht.
Heute mutet das an wie eine graue Vorzeit, was kein Wunder ist. Das Fernsehen zeigt die Welt noch in Schwarz und Weiß und den Grautönen dazwischen. Erst 1967 kommt Farbe rein. Die Deutschen ziehen mit dem Raumschiff „Orion“ und dessen Commander Cliff Allister McLane (gespielt von Dietmar Schönherr) durch die galaktische Welt, während sich die Amis mit dem Raumschiff „Apollo 11" und dessen Commander Neil Armstrong (gespielt von Neil Armstrong) auf den Weg zum Mond machen.
Die Mondlandung erlebe ich als Tellerwäscher bei Karstadt in der Mönckebergstraße. Der Küchenchef hat ein kleines portables TV-Gerät und lässt die Mitarbeiter teilhaben an diesem Weltereignis. Was will ich damit sagen? Es gibt noch Ferienjobs für Schüler, für gut zwei D-Mark brutto die Stunde.
„Das aktuelle Sportstudio“ im gerade geborenen Zweiten Deutschen Fernsehen ist das, was Markenklamotten heute sind. Nicht jeder kann sie sich leisten. Der Fernseher, den meine Eltern in den 50er-Jahren noch bei Ernst Brinkmann persönlich in der Spitalerstraße gekauft haben, kann nur die „Sportschau“ im Ersten „über den Äther in die Wohnstube“ transportieren, wie es seinerzeit heißt. nicht aber das zweite Programm. Doch mit dem Zweiten, so erfahre ich früh, sieht man besser. Wim Thoelke und Harry Valérien präsentieren Sport moderner als Addi Furler und Ernst Huberty, der streng Gescheitelte. Mit meinen Freunden in der Schule kann ich montags nicht mitreden – ich hab’s ja nicht gesehen. Aber im Ersten gibt es am Wochenende tolle Berichte über Wildwassser-Kanuslalom, Rhönradturnen, Radball und Querfeldeinrennen mit dem dreckverschmierten Gesicht von Rolf Wolfshohl. Querfeldeinrennen ist das, wenn erwachsene Männer mit einem Fahrrad nicht fahren können, weil zu viel Matsch herumliegt und sie das Rad über den Morast tragen müssen. Aber das alles interessiert mich nicht. Die Fußball-Bundesliga ist da. Und das zeigt mir eines Tages dann doch der Wim Thoelke mit seiner legendären Torwand. Die Torwand ist in etwa so groß wie die Tore auf unserem asphaltierten Schulhof. Dort nach einem Ball zu hechten, kann sehr schmerzhaft sein …
Faule Schüler mussten die „Schläfenfolter“ fürchten
Während des Unterrichts kommt es vor, dass ein Lehrer Nachhilfe gibt, die ebenfalls nicht schmerzfrei ist. Die Körperstrafe an Schulen ist in der DDR, die damals „sowjetisch besetzte Zone“ heißt, bereits seit 1949 abgeschafft, nicht jedoch in der Bundesrepublik Deutschland. Das soll hier erst 1973 geschehen. Während der Stock im Klassenzimmer tatsächlich nur zum Zeigen von Elbe, Oder, Neiße auf der an einem Ständer aufgehängten Landkarte dient, versucht ein Lateinlehrer es mit der Schläfenmethode. Das Ziehen an den kurzen Haaren seitlich des Kopfes, etwa in der Höhe des Gehirns, erfolgt dann, wenn die Vokabeln nicht ordnungsgemäß gepaukt, die Sätze des verdammten „Gallischen Krieges“ vom ollen Caesar (c wie k gesprochen) nicht korrekt übersetzt wurden oder die mühsam ins Deutsche übersetzten Metamorphosen des Ovid im Nirwana des Klassenzimmers verwehen. Es ist wissenschaftlich nicht überliefert, dass die „Schläfenfolter“ je einem Schüler auf die Sprünge geholfen hätte.
Elternabende sind damals Eltern-Abende. Da hat der Schüler nichts zu suchen. Da wird über seinen Kopf entschieden, also was drin ist und was noch reinmuss. Die Elterngespräche mit dem Lehrer müssen ein Dialog in eine Richtung gewesen sein, denn hinterher erfährt der Schüler gefiltert das, was der Lehrer möglicherweise gesagt haben könnte.
Die 68er-Revolte erreicht inzwischen die Schule. Was wir anzetteln und erleben, ist zwar allenfalls „Aufmüpfigkeit light“. Doch die Lehrer finden das nicht lustig. Zur Strafe dürfen wir als erste Abgangsklasse des Gymnasiums die obligatorische Abitur-Reise nach Rom nicht antreten. Also nix mit Papst.
G8 und/oder G9, Schulreform, Oberstufenreform, Leistungskurse, Profil-Oberstufe, Gesamtschule, Stadtteilschule, Ganztagsschule, Workshops, Gruppenarbeit, Praktika, Projektwoche, Punktsystem statt Noten von Eins bis Sechs. Solche Reformen damals – es hätte nach Revolution gerochen und nicht nach dem Mief der 60er. Doch die Zeit für die Reformitis ist noch nicht reif. Dafür ruhiger.
Was heute an den Schulen abgeht, ist mir erspart geblieben. Meinen Kindern nicht. Sie durften die Reformen „auskosten“. Mit dem Ergebnis, dass man ein Jahr vor dem Abschluss zum Latinum das Fach Latein einfach aus dem Programm streicht. Ein derartiges Chaos in den 60er-Jahren – undenkbar.
Was bleibt am Ende von der Schulzeit? Die eine oder andere Episode im Gedächtnis. Und etwas Wissen wohl auch. Doch mit dem Abstand, in diesem Fall mit einem von mehr als vier Jahrzehnten, bleibt eine Erkenntnis immer gültig: Damals wie heute geht es darum, von A nach B zu kommen. Vom Abitur zum Beruf. Denn nicht für die Schule lernen wir …