Immer mehr Schüler klagen in Zeiten von G8 und Ganztagsschule über Stress und Überforderung. Holger True erinnert sich im dritten Teil an eine Schulzeit in den 70er-Jahren zwischen Rebellion und Rockmusik.
Was macht eigentlich Susann? Die Schöne mit den langen schwarzen Haaren, dem verträumten Blick, die so gern Cat Stevens hörte und für die wir uns nach Kräften bemühten, auf der Gitarre die Akkorde von „Morning Has Broken“ zu lernen? Lange nichts mehr gehört. Mehr als 35 Jahre nicht, um genau zu sein. Damals, Mitte der 70er, war Susann, an deren Elternhaus wir auf der Fahrt mit dem stets überfüllten Schulbus zweimal täglich vorbeikamen, für uns Jungs weit wichtiger als der Aufbau der menschlichen Skelettmuskulatur oder das besitzanzeigende Fürwort, von Strebern auch Possessivpronomen genannt.
Wir waren in der siebten Klasse und bis dahin im besten Sinne unschuldig. Ein paar ganz Wilde hatten zwar schon Händchenhalt-Freundinnen durch den berühmten „Willst du mit mir gehen?“-Ankreuzzettel gewonnen, aber von der großen Liebe, von Liebeskummer gar, waren wir noch weit entfernt. Die Welt, sie war so schön, so simpel und Schule nur ein ganz normaler Teil davon. Einer, über den wir uns keine großen Gedanken machten. Wie überhaupt der Leitsatz „Carpe diem“, genieße den Tag, ohne dass wir ihn gekannt hätten, unser Leben bestimmte. Daran änderte auch die Sache mit Susann nichts, der wir heimlich kleine Papiertütchen mit Lakritzschnecken, Dauerlutschern und Frigeo-Brausebonbons vor Unterrichtsbeginn auf den Schultisch legten. An manchen Tagen kam da einiges zusammen. Unklug nur, dass keiner von uns mutig genug war, seinen Namen dazuzuschreiben. Klar, dass aus der ganzen Sache am Ende nichts wurde.
Eine unschuldige Zeit war es aber auch in anderer Hinsicht. So hatten wir zwei Mitschüler, ein Geschwisterpaar, die wir „Zigeunerkinder“ nannten – nicht abfällig, sondern beschreibend. „Roma“ oder „Sinti“ kannten wir nicht, davon hörten wir erst viele Jahre später im Gemeinschaftskunde-Unterricht. Political Correctness war nicht nur für uns, sondern auch für unsere Lehrer tatsächlich noch ein Fremdwort. Aus heutiger Sicht ein Skandal, der wochenlang die Talkshows befeuern würde. Damals Normalität. Ebenso wie der Umgang mit zeitweise etwas schwierigen Schülern, etwa mit mir. „Holger stört durch sein vorlautes Verhalten bisweilen den Unterricht“, hatte die Klassenlehrerin in mein sonst recht gutes Halbjahreszeugnis geschrieben. Aber niemand kam auf die Idee, mich deshalb zum Arzt oder Therapeuten zu schicken. Die Diagnose ADHS gab es ebenso wenig wie Ritalin, meine Eltern meinten „Das wächst sich aus“ – und kürzten das Zeugnisgeld um fünf Mark. Was mich mehr schmerzte als jede Gardinenpredigt.
Überhaupt war die Zeugnisvergabe der natürliche Höhepunkt jedes Schuljahres. Hatte der schnauzbärtige Sportlehrer mit spürbarer Bundeswehr-Vergangenheit („Disziplin, bitte!“) bemerkt, dass ich mich beim Barrenturnen immer wieder hinten angestellt hatte? War aufgefallen, dass ich mich in Mathe zwar regelmäßig meldete, aber stets erst in der Zehntelsekunde, nachdem schon ein anderer aufgerufen worden war, um die mir völlig unverständliche Vektorengleichung an der Tafel zu erklären? Die Zeit der Notendiskussionen in der Klasse war noch nicht gekommen, jedenfalls nicht in der niedersächsischen Provinz. Hier entschieden die Lehrer im stillen Kämmerlein, und wir nahmen es hin. Der Geist von 68, er mochte anderswo mächtig wehen, wir fügten uns eher in das Schicksal, als das wir Schule – wie alle Generationen vor und nach uns – natürlich auch empfanden. Und freuten uns auf die Wochen ohne. Auf die Wochen, in denen eben nicht für eine Arbeit gelernt werden musste, in denen wir nicht vor der Entscheidung standen, die Hausaufgaben entweder am Nachmittag auf Kosten der Freizeit selbst zu machen oder morgens im Schulbus abzuschreiben. In denen wir das verspürten, was sonst wohl nur der Marlboro-Mann kannte: das Gefühl von Freiheit und Abenteuer.
Da es keine Computer und nur drei Fernsehprogramme gab, verbrachten wir die meiste Zeit draußen, vor allem im Sommer. Mit dem Fahrrad zum Schwimmbad, natürlich freihändig, die vor Hitze flirrende Luft über dem schon leicht aufgeweichten, würzig duftenden Asphalt, im Ohr „Paloma Blanca“, den Gute-Laune-Hit der George Baker Selection: Glück konnte so einfach sein. Später dann, nach Stunden im kräftig gechlorten Pool, Pommes rot-weiß oder ein Mr.-Freeze-Wassereis, aus dem wir immer zuerst die Farbstoff-Aroma-Zucker-Kombi lutschten, bis im 20-Zentimeter-Plastikschlauch nur noch gefrorenes Wasser übrig blieb – herrlich.
Vor allem sehnte ich die Ferien herbei, weil mir die als übergroß empfundene Qual des Deutschunterrichts wenigstens für eine Weile erspart blieb. Die Hölle, das sind die anderen, lernten wir viel später – in der Oberstufe, als Sartre, Camus und Kafka ins Spiel kamen. Bis dahin galt: Die Hölle, das sind mittelhochdeutsche Gedichte. Wie wir Walther von der Vogelweide hassten, unbekannterweise. Wie wir uns durch seinen Minnesang quälten, nichts verstanden und doch interpretieren mussten – ganz ohne Wikipedia-Hilfe. Mit uns, so empfanden wir, hatte das alles nichts zu tun. Dass Fontanes „Unterm Birnbaum“ folgte, machte die Sache kaum besser. Zwar ließ sich nun zumindest eine konkrete Handlung nacherzählen, aber für die Literaturform der Novelle und die ewig gleichen Was-will-uns-der-Autor-damit-sagen-Fragen waren wir augenscheinlich noch nicht reif. Lieber schrieben wir Diktate und Grammatikarbeiten. Da war wenigstens klar, was richtig und falsch ist.
Dass ich später Deutsch neben Englisch als Leistungskurs wählte, dazu Gemeinschaftskunde und Biologie als Prüfungsfächer, war vor allem der Vorstellung geschuldet, ich müsste nicht viel lernen, nur gut reden können. Eine Fehleinschätzung, wie sich schnell herausstellen sollte.
Ein anderer großer Vorteil der Ferien: Wir durfte länger aufbleiben und auch mal in Sendungen reinschauen, die uns viel mehr interessierten als das nachmittägliche Kinderprogramm, aus dem wir langsam, aber sicher herausgewachsen waren.
Etwa das heute legendäre „Gruselkabinett“ mit seinem Nackenhaare aufrichtenden Intro, in dem surrealistisch anmutende Figuren sich seltsam abgehackt bewegten und eine furchterregende Stimme „Monster, Mumien, Mutationen“ ankündigte. Das wollte ich sehen. Und auch wieder nicht. So wie ich Kind war. Und auch wieder nicht. Wohin die Reise gehen würde, entschied sich nur sehr bedingt durch die Wahl der zweiten Fremdsprache oder die jährliche Abstimmung über den künftigen Klassensprecher, die grundsätzlich der beste Fußballer gewann (ich also nie).
Die wirklich wichtige Entscheidung war die zwischen „Zack“ und „Bravo“, zwischen Comicmagazin und „Sexheft“, wie meine von den Dr.-Sommer-Seiten erschütterten Großeltern die „Bravo“ nannten. Das Taschengeld ließ nicht zu, beides zu kaufen. Also musste eine Entscheidung fallen. Und sie fiel. Pro Musik, pro Starschnitt, pro Foto-Lovestory und natürlich auch pro Dr. Sommer, der den verdrucksten Sexualkundeunterricht unserer Bio-Lehrerin obsolet machte. Wer wollte noch über Eizellen und Föten sprechen, wenn zugleich Sina, 15, aus Dortmund die Frage quälte, ob sie mit ihrem Freund schlafen solle („Er will es unbedingt“) oder lieber nicht.
Wir nahmen die Hefte mit in die Schule, lasen (nicht nur) in den Pausen darin, studierten die deutschen Übersetzungen der Texte aktueller Top-Hits aus Amerika und England, und es war, als wäre plötzlich das Tor in eine andere Welt aufgestoßen. Was sich auch in den Schulnoten niederschlug. Und zwar überraschenderweise positiv, vor allem in Englisch. Da ich längst jede verfügbare Mark in Schallplatten investierte und alle Top-Hits, die mir fehlten, am Sonnabendabend aus der Internationalen Hitparade (NDR 2) auf C-90-Kassetten mitschnitt, wurde mir die englische Sprache immer vertrauter. Erstaunlich, und vermutlich bis heute weithin unbekannt, dass selbst vermeintlich Triviales wie „Fernando“ (Abba) oder „Living Next Door To Alice“ (Smokie) oft genug gehört den aktiven Wortschatz enorm erweitert und die Aussprache verbessert. Von der spielerischen Annäherung an grundsätzliche Fragen der menschlichen Existenz – revolutionärer Befreiungskampf bei Abba, verpasste Chancen bei Smokie – mal ganz abgesehen.
Diese Fragen waren es dann auch, die uns gegen Ende der 70er, kurz vor dem Eintritt in die gymnasiale Oberstufe, immer mehr interessierten, aus Jugendlichen fast schon junge Erwachsene werden ließen. Und so begannen wir uns zu empören. Zunächst noch systemkonform. Lehrermangel, dem vor allem Musik- und Kunst-, aber leider nie Mathe- und Physikstunden zum Opfer fielen, war ein großes Thema. Ebenso wie die Asbestbelastung einiger Klassenräume, die dazu führte, dass wir monatelang in Containern unterrichtet werden mussten. Schulleitung und Elternschaft waren da natürlich auf unserer Seite. Schließlich wollten wir mehr und besser lernen. Wie brav. Doch just in dem Moment kam Punk in der Nordheide an. Nicht bei allen natürlich, doch bei vielen, die die Stimmung prägten. „No future“ (The Sex Pistols) war plötzlich das Motto. „White Riot“ (The Clash) das Ziel. Und „Smash It Up“ (The Damned) der Weg. Für manche Lehrer eine echte Überforderung. Über zerschnittene Jacken, von Sicherheitsnadeln zusammengehalten, sahen sie hinweg, aber dass wir plötzlich „anti“ waren, ohne echten Grund, wie sie fanden, ließ sich schwer aushalten.
Die 80er, mit ihren Verbrüderungen zwischen Schülern und Lehrern, die gemeinsam auf Demos gegen die Volkszählung oder den Nato-Doppelbeschluss gingen, mit ihren zielgerichteten und letztlich staatstragenden Protesten für gesellschaftliche Veränderungen, sie waren zeitlich nah und doch so fern.
Ebenso fern übrigens wie die schöne Susann, die natürlich keinen von uns Süßigkeiten-Verschenkern je erhörte, aber ohnehin bald nicht mehr so wichtig war. Schließlich gab es in der Schule neben Chemie, Physik und Englisch, neben Deutsch, Bio und Geschichte noch etwas, das letztlich viel mehr zählte: jede Menge andere Mädchen nämlich, die weder auf Süßigkeiten standen noch auf Cat Stevens. Sondern auf uns.
Eines von ihnen hab ich später geheiratet.