Reinhold Beckmann und Sabine Paul suchen in ihrem Buch „Zufall!?“ nach dem Zufall in bekannter Leute Lebensläufe: zum Beispiel denen von Helmut Schmidt, Ina Müller, Peter Maffay, Mario Adorf und Carl Djerassi.

Hamburg. Wahrscheinlich kann man sagen, dass Liebe immer Zufall ist, selbst bei Partneranzeigen und Dating-Portalen. Wer weiß schon, wann wer wem über den Weg läuft – abgesehen von unverwüstlichen Prinzessinnen, die einfach wissen, dass Mr. Right irgendwann angeritten kommt. Ob die Mutter von Sahra Wagenknecht romantischen Träumen nachhing oder nicht, ist weiter nicht bekannt. Bekannt ist: 1968, zuzeiten des Kalten Kriegs, lernte sie auf der Friedrichstraße in Berlin einen Westberliner Gaststudenten aus Iran kennen. Und verliebte sich.

Das klingt nicht ganz so wahrscheinlich wie die Romanze mit irgendeinem DDR-Bürger, und deswegen passt die Geschichte, warum die Politikerin Sahra Wagenknecht überhaupt auf der Welt ist, ganz gut in den Band „Zufall?! Eine Spurensuche in außergewöhnlichen Biographien“ – so viel, was Menschen zustößt, geschieht unvorhergesehen. Oder beeinflusst ein Leben in nicht geahnter Weise. Bei Wagenknecht, der stellvertretenden Vorsitzenden der Linken, war es das für sie nicht vorhersehbare (und auch zunächst betrauerte) Ereignis der Wende, das ihr Leben veränderte. „Man kann nicht sagen, die Wende war ein Zufall, aber für mein Leben war es schon so“, sagt Wagenknecht, und damit ist klar, worum es in einem Buch über den Zufall auch geht: um die Bedeutung, die größere oder kleinere Ereignisse in dem jeweiligen Leben bekommen.

Das Unerwartete hat Methode, der Zufall ist so existent und existenziell wie das Schicksal, eine Kraft, die jeder kennt. Aber weil die prominente Biografien stets interessanter sind als die der meisten von uns Normalen, sind auch ihre Bekanntschaften mit dem Zufall interessanter: 25 dieser besonderen Menschen stellen die Journalisten Reinhold Beckmann und Sabine Paul in ihrem bei Hoffmann und Campe erscheinenden Buch nun vor.

Dabei ist keiner der Texte krampfhaft auf die Prämisse „Zufall“ gebürstet; stattdessen könnte das Buch genauso gut „Wendepunkte“ heißen. Unter welchem Wort man hier Biografisches zusammenfasst, ist derweil ganz egal, denn wichtig ist allein, was hinten raus kommt, und das ist in diesem Falle ein Kaleidoskop von Lebensgeschichten. Eine Sammlung von Miniatur-Biografien, die Personen aus ganz unterschiedlichen Zusammenhängen zu Wort kommen lassen: den Schauspieler Mario Adorf beispielsweise, die Sportlerin Magdalena Neuner, die Sängerin Ina Müller, den Chemiker Carl Djerassi, den Bergsteiger Reinhold Messner, die Politiker Ursula von der Leyen und Roman Herzog.

„Zufall“ ist das, was man nicht strategisch in die Wege leiten kann

Wenn sie erzählen, warum sie geworden sind, was sie sind, dann äußert da fast nie der esoterische Glaube an die Macht des Schicksals, sondern eher Demut, weil sich die Dinge gefügt haben, manchmal aber auch der Wille zur Tatkraft. „Fortuna ist zwar blind, aber nicht unsichtbar – also, man kann das Glück ergreifen, es kommt nicht unbedingt von selber“, sagt beispielsweise Mario Adorf sehr weise.

Dass der lateinische Begriff „Fortuna“ sowohl Glück als auch Schicksal bedeuten kann, weist im Falle der Porträtierten übrigens in die richtige Richtung, denn in ihrem Falle kann man wohl immer von geglückten Lebensläufen sprechen. Die Bescheidenheit steht ihnen gut zu Gesicht. Der an sich ja ziemlich schreckliche Sänger der Toten Hosen – er heißt von Geburt Andreas Frege, man kennt ihn als Campino – zum Beispiel wirkt gleich viel sympathischer, als er vom Glück der Freundschaft berichtet, das ihn und seine Bandkollegen zusammengebracht hat; und von einem Leben, das ihm die Entscheidungen eigentlich immer aus der Hand nahm. Wenig überraschend ging es ihm nicht um Geld oder um Erfolg, zumindest am Anfang nicht. Das wäre bei einem Punk doch auch sehr gewöhnungsbedürftig.

Überhaupt ist manches erwartbar in dieser flüssig und gut geschriebenen Collage (zumeist) deutscher Lebensläufe. Dass der Bergbezwinger Messner nicht an den Zufall, sondern an Naturgesetze glaubt? Dass die Physikerin Angela Merkel den Zufall ausschaltet, so gut es geht? Dass Helmut Schmidt um dem Tatbestand, dass das Leben nicht planbar ist, wenig Aufhebens macht? Man wäre enttäuscht, wäre es anders, schließlich hat man sich an die Bilder gewöhnt, die man sich von öffentlichen Figuren gemacht hat. Das Leben sei eine Aneinanderreihung von Zufällen, sagt Schmidt, und er weiß, dass es eine einmalige Begebenheit war, die ihn politisch nach oben spülte: die Sturmflut 1962. Es ist eine Stärke des Buchs von Beckmann und Paul, dass sie mit den Porträtierten durch deren Leben navigieren, ohne dass dabei mehr entstehen soll als eine mögliche Spur, die Erlebnisse und Erfahrungen in eine bestimmte Ordnung bringen.

„Zufall“ ist das, was man nicht strategisch in die Wege leiten kann – und das, was professionelle Beobachter in den Karrieren der politischen Entscheider sehen. Der „SZ“-Journalist Stefan Kornelius – einer von zwei Gastbeiträgern des Buches – beschreibt in seinem Stück über Merkel, wie der nicht kalkulierbare Kraftmeier-Auftritt des Wahlverlierers Schröder in der Elefantenrunde 2005 das schlappe Ergebnis Merkels in den Hintergrund rückte. Nach Schröders angriffsfreudig-blaffender Show war die CDU geeint, Merkels Gegner in der eigenen Partei bekannten Farbe, und eine Ära begann. Bei Helmut Schmidt will es die eine Betrachtungsweise, dass es der Sohn Barmbeks Günter Guillaume zu verdanken hat, 1974 Kanzler geworden zu sein. Eine andere sagt: Wäre doch eh irgendwann auf Schmidt hinausgelaufen.

Eine Einsicht, die der Altkanzler übrigens gar nicht teilt. Seine Kanzlerschaft sei unvorhersehbar gewesen, sagt Schmidt im Gespräch mit Beckmann und Paul. Ohne dass er dem Unvorhergesehenen groß Bedeutung einräumt, klar: Für mythische Überhöhungen ist wohl keiner so wenig zu haben wie Schmidt. Der Schriftsteller Martin Walser bringt seine Gedanken über das Gewollte und das Zufällige so auf den Punkt: „Ich bin wirklich blind von Schritt zu Schritt geleitet von einer Notwendigkeit, die ich nicht kannte, die es aber sicher gab.“

Am Ende funktioniert der Zufall als Kategorie doch recht gut, weil er auch ein großer Gleichmacher ist. Er stellt zum Beispiel alle Menschen vor die kränkende Einsicht, dass es mit dem Willen und der Zielstrebigkeit nicht so weit her sein kann, wenn dann doch eine kaum fassbare Größe über das persönliche Ergehen entscheidet. Aber was ist eigentlich ein Zufall? Voltaire hielt ihn für nicht existent – „nichts kann ohne Ursache existieren“. Dem halten wir entgegen, dass wir einfach das „Zufall“ nennen, was uns in einer Ereignisreihung in (logische) Kausalketten zu kompliziert erscheint.

Und das nehmen wir als Konstante in unsrem Alltag gerne als gegeben hin, weil es in seiner kleinen Ausführung Würze ins eigenen Erleben bringt. In der großen kann es ein Wendepunkt im Leben sein.