EZB-Präsident Draghi und Helmut Schmidt diskutierten Wege aus der Euro-Krise. Der Ex-Kanzler kritisierte die europäischen Institutionen. 600 Gäste kamen in den Michel – trotz immenser Kartenpreise.

Hamburg. Der Tagungsort ist nicht unumstritten, aber bei Wirtschaftsführern wie Entscheidern so beliebt wie kaum ein anderer Platz in der Hansestadt. Die Wochenzeitung „Die Zeit“ lud am Donnerstag zu ihrer fünften Wirtschaftstagung in den Hamburger Michel, und 600 Gäste kamen – trotz Kartenpreisen von 950 Euro ohne Mehrwertsteuer.

„Von einer Kanzel zu reden ist etwas ganz Besonderes“, betonten gleich mehrere Teilnehmer. Besonders war auch die Gästeliste – Dutzende Manager, ein Ministerpräsident, ein EU-Kommissar, ein Notenbankchef.

Die Diskussion am Abend zwischen Mario Draghi, dem Präsidenten der Europäischen Zentralbank (EZB), und Altkanzler Helmut Schmidt war der Höhepunkt der Veranstaltung. Erst am Mittag hatte die EZB überraschend den Leitzins wegen wachsender Deflationssorgen auf 0,25 Prozent gesenkt, nun zeigte sich auch in der Diskussion: Die Euro-Krise ist nicht ausgestanden.

„Unsere Aufgabe ist Preisstabilität. Weil die Inflationsrate zuletzt unter unseren Erwartungen lag, mussten wir handeln“, sagte Draghi. Er könne die Sorgen der deutschen Sparer verstehen, aber die EZB müsse den ganzen Euro-Raum im Blick haben. Zudem sei die Situation in Deutschland besonders, weil viel Geld in deutsche Staatsanleihen als sicheren Hafen fließe. Je schneller Europa aus der Krise komme, umso schneller würden sich die Zinsen in Deutschland wieder normalisieren.

Helmut Schmidt lobte die Politik des Notenbankchefs ausdrücklich. Er stehe an der Spitze der Institution, die ernsthaft gegen die Euro-Krise kämpfe. Draghi forderte, die wirtschaftlichen Ungleichgewichte in Europa abzubauen. „Dabei darf aber nicht der Stärkste geschwächt werden“, betonte er mit Bezug auf Deutschland. Er warnte zugleich vor zu hohen Erwartungen an die Zentralbank: „Geldpolitik kann nicht die Fehler der Politik reparieren.“

Die Politiker müssten nicht wie früher ein Land aufbauen, sondern die Befriedigung der Grundbedürfnisse der Menschen sicherstellen. Dafür müssten die Regierungen der Nationalstaaten bereit sein, Kompetenzen an Europa abzugeben.

„In der Vergangenheit sind viele Fehler gemacht worden“, sagte Schmidt. Der Weltökonom aus Langenhorn verzichtete gegen seine Gewohnheit während der Veranstaltung aus Respekt vor dem Gotteshaus auf das Rauchen. Er wolle nicht über die Vergangenheit, sondern die Zukunft sprechen. Temperamentvoll kam Schmidt auf die soziale Situation in Europa zu sprechen: „Eine Jugendarbeitslosigkeit von 50 Prozent wie in Spanien oder Griechenland ist eine Schande für uns alle“, sagte er unter dem Beifall der 600 Zuhörer im Michel. „Hier muss sofort gehandelt werden.“ Eine Einschätzung, die Draghi ausdrücklich teilte.

Kritisch ging Helmut Schmidt mit der Arbeit der Europäischen Kommission ins Gericht. Sie arbeite hart, aber es komme wenig heraus. Viele Menschen in Europa hätten das Gefühl, es werde zu viel geredet, aber zu wenig gehandelt. Schmidt betonte, Deutschland stehe in der Pflicht zur Solidarität; das Land habe in der Vergangenheit von Europa profitiert und müsse jetzt etwas zurückzahlen. Der Altkanzler und der Währungshüter sprachen sich für eine engere deutsch-französische Zusammenarbeit in Europa als eine „Säule der Integration“ aus.

Weitaus umstrittener war die Energiepolitik. EU-Energiekommissar Günther Oettinger sollte sich mit seinem grünen Ministerpräsidenten-Nachfolger in Baden-Württemberg, Winfried Kretschmann, eigentlich duellieren, es wurde eher ein gemeinsames Werben. Der Christdemokrat Oettinger prophezeite in diesem Jahrzehnt weitere zwei bis drei schwarz-grüne Koalitionen auf Landesebene, woraus eine Koalition auch auf Bundesebene werden könne. Die beiden Schwaben schätzen sich, tauschen sich regelmäßig aus. Allerdings warb Oettinger um niedrige Energiekosten: „Das wird der standortgefährdende Punkt in Deutschland.“ Kretschmann verwies hingegen auf eine Vielzahl von Vergünstigungen für stromintensive Unternehmen. „Energieeffizienz muss das Ziel sein, das ist der Weg eines Hightech-Landes.“ Da nickte Oettinger schon wieder.

Scharfe Kritik an der Umsetzung der Energiewende kam von Stefan Grützmacher, Chef der Gasag Berliner Gaswerke Aktiengesellschaft: „Die Energiewende ist eine Wette auf steigende Weltenergiepreise gewesen – das ist gehörig schiefgegangen.“ Angesichts der Schiefergasrevolution in den USA seien die Preise andernorts sogar gesunken. Die Idee eines nachhaltigen und dezentralen Energiesystems sei richtig und mutig, man müsse aber überlegen, wann, wo und zu welchem Preis sie umgesetzt werde. Grützmacher riet zu weniger Emotion und mehr kühlem Kopf: „Die Energiewende ist ein Mehrgenerationenprojekt.“

Der wahrscheinliche neue FDP-Chef Christian Lindner forderte eine marktwirtschaftliche Wende in der Energiewende und ein europäisches Denken. Das ökologisch Wünschenswerte müsse mit dem ökonomisch Vernünftigen und dem physikalisch Machbaren verbunden werden. Prof. Claudia Kemfert vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung verteidigte das Erneuerbare-Energien-Gesetz, das für andere Staaten zum Vorbild geworden sei. „Deutschland schafft sich langfristig einen Wettbewerbsvorteil.“ Der deutsche Shell-Chef Peter Blauwhoff betonte, das Ausland blicke mit Interesse, aber auch Abstand auf die Energiewende – aus Sorgen um die Wirtschaftlichkeit und Versorgungssicherheit.

Zuvor ging es im Michel um den Tourismus. TUI-Chef Friedrich Joussen warb um mehr Wertschätzung für die „größte Industrie der Welt“, welche die Euro-Krise zu lindern vermöge. „Ohne Tourismus läuft in Spanien, Portugal oder Griechenland derzeit gar nichts“, betonte Joussen. In Deutschland sei die Branche für 4,4 Prozent des Sozialprodukts verantwortlich und ein Beschäftigungsmotor. Und als eine der wenigen Wirtschaftsbranchen trage Tourismus dazu bei, das weltweite Wohlstandsgefälle auszugleichen.

Einhellig waren die Warnungen vor einem Mindestlohn im Michel. „Das wäre ein massives Problem“, sagte der mittelständische Hotelunternehmer Otto Lindner. „Gerade Kleinstbetriebe auf dem Land werden das nicht schaffen“. Man dürfe nicht eine ganze Branche paralysieren.