Nicht nur bei der Fertigstellung der Elbphilharmonie gibt es Probleme - Baustellen gibt es auch in Klangkörpern und Kulturpolitik.
Hamburg. Das Thema Elbphilharmonie ging in den letzten Monaten, während ein "alternativloses" städtisches Ultimatum nach dem anderen platzte, noch mehr Hamburgern auf die Nerven als ohnehin schon. Keine Spekulation begnügt sich noch mit einem Endpreis unterhalb der halben Milliarde Euro. Auf nationalen Spott hat der Senat - trotz der Konkurrenz durch den Berliner Flughafen - ein Abonnement.
Jetzt naht der Winter und damit die nächste, diesmal wetterbedingte Arbeitspause auf dem Kaispeicher. Weitere Monate des teuren Stillstands. Nach wie vor wird offiziell vom Sommer 2015 als Endtermin der Bauarbeiten gesprochen, während das Prestige-Objekt fatalerweise fast schon wie fertig aussieht, abgesehen vom Schönheitsfehler der alles entscheidenden Dach-Mittellücke über dem Großen Saal.
Doch was wäre, wenn der Bauzustand des neuen Konzerthauses nicht um Jahre hinter dem Plansoll läge? Wie stünde es jetzt um die selbst ernannte Musikmetropole Hamburg? Im Idealfall wäre die Elbphilharmonie jetzt in ihrer zweiten Saison. Konzertkarten wären Mangelware, weil der Andrang von touristischem Sightseeing-Publikum aus aller Welt enorm wäre.
Qualitativ gut aufgestellt ist die Musikszene der Stadt dafür aber nicht. Im Gegenteil: Die Lücke zwischen der erhofften, weithin strahlenden Exzellenz und der lokalen Vielfalt wird immer größer. Kleine Ensembles kämpfen derzeit wegen Summen ums Überleben, die lächerlich und kulturpolitische Peinlichkeiten sind, verglichen mit den Unsummen, die jenes Leuchtturmprojekt betreffen, dessen Zukunft auch sie durch Impulse von unten und den Repertoire-Rändern sichern sollen.
Die Philharmoniker sind nach der Berufung Kent Naganos zum nächsten Generalmusikdirektor in einer wenig produktiven Zwischenphase. Noch-Chefin Simone Young wird auf ihrem Posten bis zum Abschied 2015 den Status einer lame duck (lahmen Ente) aussitzen. Neue Impulse, auch für die fehlende Staatsopern-Profilierung, sind von ihr nicht mehr zu erwarten. Ihre Spielzeiten sind weitgehend geplant und werden jetzt abgewickelt. Möglicherweise wird sie, befreit vom Druck ihrer beiden Jobs Opern-Intendanz und Chefdirigentin, auf der Zielgeraden wieder befreiter und besser auftreten. Das Orchester dürfte sich, wie es schon vor Youngs Kommen der Fall war, in einen Sehnsuchtsrausch hineinsteigern. Bereits jetzt jubilieren manche Musiker, als könne Nagano übers Wasser wandeln und es danach auch noch in Wein verwandeln.
Besser als bei den Philharmonikern sieht es beim NDR-Sinfonieorchester aus. Chefdirigent Thomas Hengelbrock, der aus der Alten Musik kommt, dort aber nicht stehen geblieben ist, hat gerade einen Lauf, bei seinem Publikum ebenso wie bei seinem Orchester. Und was für die Zukunft noch entscheidender sein wird: Er hat als Maestro des dortigen Residenzorchesters einen wichtigen konzeptionellen Schlüssel für die Elbphilharmonie in der Tasche.
Als Managerin des Rundfunkorchesters, das nur postalisch zu Hamburg gehört, soll Andrea Zietzschmann - mit gutem Renommee vom Hessischen Rundfunk (HR) aus Frankfurt kommend - ab 2013 als Nachfolgerin von Rolf Beck sichern, dass die Marke NDR und die Marke Elbphilharmonie auf einen für den Norddeutschen Rundfunk lohnenden Nenner kommen. Trotz der begehrlichen Blicke von Nagano und den Philharmonikern auf jene Vorrechte und Pflichten, die sich der Sender für die ersten zehn Jahre nach der Eröffnung des Konzerthauses gesichert hat.
Dritte im ungleich aufgestellten Bunde sind die Symphoniker. Hin und wieder fallen sie durch überdurchschnittliche Konzerte und handverlesene Gäste auf, ansonsten aber vor allem durch Wortmeldungen von Intendant Daniel Kühnel, der bei jeder Gelegenheit mehr Subventionen als die bereits erhaltenen einfordert, obwohl die Kultursenatorin jedes Mal kundtut, es gäbe nicht mehr und es sei nie mehr versprochen worden. Ob und bis wann Chefdirigent Jeffrey Tate - verehrt, aber gesundheitlich angeschlagen - seinen im Sommer ausgelaufenen Vertrag verlängert, ist unklar. Gespräche laufen noch. Kühnels elegante, smarte Wendigkeit seiner früheren Jahre trägt nun verhärtete Züge. Geht Tate, wird es eng für das Orchester.
Platz geschaffen wurde unterdessen im unmittelbaren Umfeld von Generalintendant Christoph Lieben-Seutter. Kultursenatorin Barbara Kisseler beendete die Annahme, dass ein reales Konzerthaus mehr als einen Geschäftsführer benötigt, und ersetzte Gereon Röckrath und Tessa Beecken durch den Noch-Schauspielhaus-Chef Jack Kurfess. Der hat vielleicht nicht die größte Ahnung von der Musik-Branche, aber von Zahlen. Und die haben Priorität, signalisiert diese rigide Maßnahme im Personalbestand Lieben-Seutters, die womöglich nicht die letzte war.
Programmatisch wird weitgehend so solide weitergemacht wie in den vergangenen Jahren, nur auf noch weiter erhöhtem Frust-Niveau. Hier und da werden Programmtupfer gesetzt, wie demnächst mit Geistlichem unter dem Motto "Lux aeterna". Was bleibt Lieben-Seutter auch anderes übrig? Klotzen kann er immer noch nicht, sein Schicksal steht und fällt mit dem Bautempo. Und ein so rares Highlight wie das Brahms-Requiem auf der Elbphilharmonie-Plaza verbuchte Theaterfestival-Chef Nikolaus Besch unterdessen geschickt als angeblich erstes Elbphilharmonie-Konzert aufs eigene Konto.
Und sonst so? Es geht, so gerade; aber wie lange noch geht das gut? Das Ensemble Resonanz und die Hamburger Camerata, die beiden wichtigsten kleineren Formationen, haben unterschiedliche Profile, aber ähnliche Probleme: mehr Ehrgeiz als Geld und weniger städtische Förderung als erhofft.
Das historisch so wertvolle Thema der Hamburger Komponistenmeile in der Peterstraße liegt mangels Sponsoren im Wachkoma. Die Ostertöne als unausgegoren geplantes Avantgarde-Sortiment? Eingestellt. Ein Barock-Festival zur Würdigung der großen Geschichte rund um den Gänsemarkt und Größen wie Telemann, Keiser oder Händel? Ebenso überfällig wie nicht in Sicht.
Die Idee eines überregional großen Hamburger Festivals wurde zwar kürzlich von der Kultursenatorin reanimiert, es finden strategische Gespräche statt, wie es aussehen könnte. Aber ob und wie sich diese Idee realisieren lässt? Niemand weiß es derzeit. Und ob und wie sich dieser Anspruch mit den Angeboten rund um die Metropolregion Hamburg verträgt, mit den Festivals in Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern, Bremen und Niedersachsen? Auch das weiß derzeit niemand.
Klar ist nur eines: Solche Konzepte etablieren sich nicht von heute auf morgen. Für Kleingeld sind sie erst recht nicht zu haben. Dazu kommt auch noch der Neustart des nach Hamburg drängenden SHMF, das dringend ein neues Profil benötigt und es ab 2013 durch den ehemaligen Hamburger Pro-Arte-Chef Christian Kuhnt erhalten soll, der einst Kronprinz beim scheidenden Intendanten Rolf Beck war. Die Lage ist alles in allem ähnlich verfahren wie der Bau-Krieg zwischen Senat und Hochtief. Die Devise: Fast alle gegen fast jeden statt alle für eines.
Als Abbinder mit Ausblick könnte hier auch noch ein Statement der Kultursenatorin stehen. Doch was soll Barbara Kisseler sagen, was sie nicht schon x-mal verlauten ließ? Das Prinzip Hoffnung ist das Maß aller Dinge.
"Es ist nie die richtige Zeit, um ein Konzerthaus zu bauen", erklärte Simon Rattle, Chefdirigent der Berliner Philharmoniker, gerade in der "Süddeutschen Zeitung" zu Münchens endlosem Geeiere. Doch der Satz passt auch an die Elbe. Die Stadt Hamburg, genervt und gelähmt von der eigenen kurzsichtigen Unfähigkeit, will und muss nun ihr begonnenes Konzerthaus weiterbauen. Aus welchen kulturpolitischen und gesellschaftlich relevanten Gründen, das rückt immer mehr in den Hintergrund. Denn nach wie vor entsteht mehr als ein potenzielles Wahrzeichen zum Beglücken solventer Reisebus-Inhalte. Es entsteht ein Kulturproduzent und -motor, der das Profil der gesamten Stadt über etliche Jahrzehnte prägen wird. Während die Arbeiten am Bau nicht vorankommen, wird die eigentliche Baustelle immer größer. Und bedrohlicher.
PS: Am 14. November wird Kultursenatorin Barbara Kisseler gemeinsam mit Generalintendant Christoph Lieben-Seutter im Miniatur Wunderland bei der der Grundsteinlegung für die zweite, kleinere und günstigere Elbphilharmonie in der Hamburger HafenCity anwesend sein.