Mit Jochen Sandigs Konzert-Inszenierung “human requiem“ wurde zur Eröffnung des Theaterfestivals erstmals die Elbphilharmonie-Plaza bespielt.
Hamburg. Alles andere war gut eine Stunde lang sehr unwichtig. Erstaunlich, ergreifend, berührend unwichtig. Es war noch egaler als sonst, wer Kanzlerkandidat der SPD ist, wie lausig der HSV spielt, ob Griechenland aus der Euro-Zone geworfen wird oder nicht oder ob man die FDP wirklich braucht für ein erkennbar besseres Leben. All das und noch viel mehr war draußen, jenseits der Hafenwind-Schutzplanen, gut 37 Meter tiefer, dort, wo Wirklichkeit und Endlichkeit einen todsicher wieder in den Griff bekommen. Gut eine Stunde war man mit sich allein, unter vielen Menschen und umgeben, ja: umarmt, liebkost, getragen von Musik.
Wirklich große Kunst nimmt einen mit. Nicht weniger als das hatte der Berliner Dramaturg Jochen Sandig vor, als er aus der Idee, Brahms' "Deutsches Requiem" von der frontalbeschallenden Konzertbühne herab und buchstäblich unter die Menschen zu bringen, Wirklichkeit werden ließ. Sandig strich das ohnehin nur verwirrende "Deutsche" aus dem Titel und holte entschieden weiter aus. Dieses Stück der ganzen Welt, ein "human requiem" also.
Die formale Premiere gab es im Februar im Berliner Radialsystem, die eigentliche, dem Konzept wirklich angemessene, wieder mit dem exzellenten Rundfunkchor Berlin, gab es an diesem Wochenende auf der Plaza der Elbphilharmonie. Das erste "Konzert" in einem Raum, der kein Konzertraum ist, in einem Gebäude-Rohling, der noch kein Konzerthaus ist. Als unwiederholbares und dreimal ausverkauftes Eröffnungsspektakel des Hamburger Theaterfestivals in Brahms' Geburtsstadt, in der Großen Fuge zwischen Alt- und Neubau-Teil des Konzerthauses, dem Himmel 37 Meter näher als sonst.
Kein Orchester war dabei, dafür ein Klavier mit zwei Pianisten, das ebenso mobil im Raum beweglich war wie die beiden Dirigenten. Die Plaza war leer geräumt, der Betonboden mit Rollrasen begrünt; am Eingang waren Holzspäne gestreut, als würde man, zurück zur Natur und das mitten in der Millionenstadt, einen Wald betreten. Auf den Säulen, die den Konzertsaal abzustützen scheinen, standen die vertonten Bibelverse. Mehr Symbolik als hier und so geht kaum.
Als am Sonnabend die theatrale Verräumlichung des Requiems begann, standen gut 800 Menschen im Klangraum, unsicher abwartend. Dann kam leise von irgendwo der erste Chor-Einsatz, "Selig sind, die da Leid tragen". Ein älterer Herr stand, nachdem sich die Sänger durchs Singen als Sänger zu erkennen gegeben hatten, gegen die generelle Blickrichtung zum Hauptdirigenten Simon Halsey, die Augen selig geschlossen. Jeder konnte ihn sehen, was ihm egal war, denn er sah niemanden. Er hatte ja die Musik.
Nähe ist mitunter anstrengend. Es hat schon seinen Grund, dass Konzertbesucher in Reihen nebeneinandersitzen, so bleiben sie im Kollektiv sicher und unerkannt. Umso schockierender und intimer ist es, wenn man einem wildfremden Gesicht unmittelbar ansieht, was Musik auslösen kann.
Auf der kleineren der zwei Freitreppen stand ein Ehepaar, sie hielt sich an ihm fest, er tröstete sie, sie weinte. Wäre das eine Kirchentags-Eröffnung, man hätte fast schon hämisch werden mögen bei so viel Gefühligkeit wie auf Knopfdruck. Doch das hier war ganz anders. Besonders war es, für jeden individuell.
Die Choristen in Alltagskleidung verkniffen sich die volle vokale Wucht, ihre Koordination war auch über große Entfernungen hinweg bestens, jede der tollen Einzelstimmen wirkte wie ein Dialog mit dem Zuhörer. Beim Umhergehen berührten manche Sänger ihr Publikum sanft am Arm. Haltet durch, zeigte diese Geste, wir sind bei euch. Wir sind nicht allein. Das Publikum und der Chor wurden zur Schicksalsgemeinschaft für diesen einen Abend.
Die Personenregie dramatisierte die Bibeltexte ebenso schlicht wie eindringlich: Zu "Denn alles Fleisch, es ist wie Gras" zog der Chor in einer ersten Prozession durch die Menschenmenge, die sich behutsam vor ihm teilte, bis er die große Freitreppe erreichte.
Für "Wie lieblich sind deine Wohnungen, Herr Zebaoth" setzten sich einige Sängerinnen und Sänger, näher o Herr zu dir, auf Schaukeln, ein Bild paradiesischer Unschuld. Als die Sopranistin Charlotte Müller Perrier in weißem Engelsgewand "Ihr habt nun Traurigkeit" zu singen begann, bewegte sich die Zuschauermasse, angezogen wie eine Motte vom Licht, langsam auf sie zu, dorthin, woher die Musik kam, bevor sie, und das war dann doch vielleicht eine Spur des gut gemeinten Pathos zu viel, auf der Freitreppe nach oben entschwand.
Als das Tutti im sechsten Satz in einer weiteren Prozession sein "Tod, wo ist dein Stachel? Hölle, wo ist dein Sieg?" sang, standen sich die beobachtenden Publikumsreihen im grellen Licht gegenüber. Ein uralter Theatertrick, aber er verfehlte seine Wirkung nicht. Eine junge Frau auf der anderen Seite der Sängerschneise strahlte vor Glück. Alles andere war ihr, hier und jetzt, egal. Sie war bei Brahms.
Zum Schlusssatz "Selig sind die Toten" löschte Sandig das Licht, die letzten Minuten mit der Musik sollten gänzlich privat bleiben dürfen.
Von Brahms ist nicht überliefert, dass er im täglichen Umgang ein liebenswürdiges Seelchen von Mensch gewesen wäre. Raue Schale, weicher Kern, im Alter blickdicht verborgen hinter Weihnachtsmannbart, bissigen Kommentaren, Übergewicht und Zigarrenqualm. An diesem unwiederbringlichen Abend, der großes Theater war ohne Schauspieler und Konzert ohne normale Bühne, hätte wohl selbst seine Fassade Risse bekommen.