Auf der Plaza der Elbphilharmonie konnten Besucher ein einmaliges Konzert erleben: Der Rundfunkchor Berlin eröffnete das Theater-Festival.
Hamburg. Mit dem Lastenaufzug geht es hoch auf die Baustelle der Elbphilharmonie. In 37 Meter Höhe, auf der öffentlichen Plaza des Konzerthauses, empfängt die Besucher ein Skelett aus Beton und Stahlträgern. Ein Pfad aus Rindenmulch zeigt ihnen den Weg zur Mitte des Rohbaus, plötzlich spürt man Gras unter den Füßen. Die großen Panoramafenster sind mit Plastikfolien abgedeckt, damit der Wind nicht hineinweht. Ein riesiges Stahlskelett ragt in der Mitte des Raumes in die Höhe, links und rechts führen geschwungene Betontreppen nach oben. Von hier wird man später einmal in den Konzertsaal gelangen. „Selig sind, die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden“, steht auf einer der Betonsäulen.
Nachdem sich die Besucher auf der Plaza verteilt haben, erklingt plötzlich Klaviermusik. Der Dirigent Simon Halsey breitet die Arme aus und beginnt zu dirigieren. „Selig sind“ ertönt es aus allen Teilen des Raumes. Die Sänger des Rundfunkchores Berlin haben sich am Samstagabend unter die Zuhörer gemischt und beginnen mit Johannes Brahms „Ein deutsches Requiem“, das das Hamburger Theater-Festival eröffnet. Plötzlich fängt der weißhaarige Mann an zu singen: „Die mit Tränen säen, werden mit Freuden ernten“. Die berührenden Zeilen gehen unter die Haut. Dann bewegen sich die Sänger und wandern zwischen den Zuhörern hin und her: „Denn alles Fleisch, es ist wie Gras und alle Herrlichkeit des Menschen wie des Grases Blumen.“
Sänger in normaler Alltagskleidung – Fleecejacke, Pullover, Jacket - gehen an einem vorbei. So nah hat man ihre Stimmen bei einem normalen Konzert noch nie gehört. Plötzlich sammelt sich der Chor und wandert mit dem Klavier, das auf einem Wagen steht, durch die Menge. Dann teilen sich die Sänger in Männer und Frauen, gehen hintereinander durch die Zuhörer, die wie von unsichtbarer Hand geleitet den Weg frei machen. Dann sollen sich alle hinsetzen. Nur der Bariton Edwin Crossley-Mercer steht plötzlich allein in Sweatshirt und Jeans da: „Herr, lehre doch mich, daß ein Ende mit mir haben muss, und mein Leben ein Ziel hat, und ich davon muss“, singt er inbrünstig. Später wird die Sopranistin Charlotte Müller Perrier ihren Part auf der Schaukel präsentieren.
Die Choreografinnen Ilka Seifert und Sasha Waltz haben diese Dramaturgie entwickelt, der Berliner Regisseur Jochen Sandig das Konzept entwickelt, das bisher nur im Radialsystem in Berlin zu sehen war. „Die Plaza der Elbphilharmonie ist ein Zwischenraum, man ist nicht ganz auf dem Boden und nicht ganz oben, da paßt das Stück gut hin“, hatte Sandig im Vorfeld betont.
„Brahms ging es wohl auch darum, sich selbst Trost zu spenden“, erläutert Sandig das Werk. Vor knapp 150 Jahren feierte der Komponist mit dem „Requiem“ seinen Durchbruch. Als seine „geliebte Freundin“ Clara Schumann die Noten erhielt, schrieb sie ihm in einem Brief: „Das ist ein gewaltiges Stück, das den ganzen Menschen ergreift. Der tiefe Ernst, vereint mit allem Zauber der Poesie, wirkt wunderbar, erschütternd und besänftigend.“ So empfanden auch die meisten Premierenbesucher: „Das war ein einmaliges Konzert, weil es eine ganz andere Form des Erlebens war, immer überraschend, tröstend, berührend“, meinte eine Besucherin. „Ich fühlte mich mitten in dem Stück, als Teil des „Requiems„“, meinte eine andere. „Das war alles sehr stimmig: Das Holz, der Rasen, das passte alles wunderbar.“