Beim Reeperbahn-Festival 2012 war der Andrang riesig. 25 000 Besucher - Rekord - sahen über 290 Bands der Zukunft.
Hamburg. Das Reeperbahn-Festival beginnt für Molotow-Türsteher Viktor Hacker entspannt. Am Donnerstag erzählt er mit seinem Kollegen Mark Büttner und Henning Geisler in der Pearls Tabledance-Bar Anekdoten aus dem Türsteher-Alltag, garniert mit schlagfertigen Pointen. Der ehemalige Bundeswehrsoldat erweist sich auch als Literat von Format, und Geist wie Körper wird er noch brauchen.
Denn das Reeperbahn-Festival ist endgültig zu Deutschlands erster Anlaufstelle für die Popkultur von morgen geworden. 25 000 Besucher, darunter 2500 Vertreter der nationalen und internationalen Musikwirtschaft- und der Medienbranche, tummeln sich drei Tage und Nächte in 60 Klubs, Theatern, Galerien, auf dem Spielbudenplatz, im Millerntor-Stadion und wo immer das Festival-Logo prangt.
Das Molotow ist traditionell bei jedem der zwölf Konzerte im Keller überfüllt. Schwerstarbeit für Viktor Hacker. Aber auch Klubs, die sonst eher ein Schattendasein fristen wie das traditionsreiche Indra, ziehen Trauben von Musikbegeisterten an.
Der Erfolg des Reeperbahn-Festivals ist weithin sichtbar. Vor dem Auftritt von Cro reicht die Schlange der geduldig wartenden Fans vom Docks bis zur Davidstraße. Eine riesige Meute steht auch vor der Prinzenbar, wo eine völlig unbekannte kanadische Rockband namens Arkells spielen soll. "Noch kein Einlass?" "Schon voll", lautet die knappe Antwort des Türstehers. Eins von vielen Beispielen, dass Livemusik wieder gelebt wird.
Das Festival zwingt seine Besucher geradezu dazu, sich auf Neues einzulassen, denn 90 Prozent der 295 Gruppen und Solisten sind gänzlich unbekannt oder höchstens Geheimtipps. Aber das Publikum vertraut dem Programmteam des kuratierten Festivals seit Jahren. Im Kaiserkeller wippt es zu den Grooves von Lucille, einer zehnköpfigen Soul-Hip-Hop-Band aus Tel Aviv, im Gruenspan wird es von den Hendrix-mäßigen Gitarrensoli des Texaners Gary Clark jr. geradezu weggeblasen, im Jazz Café erlebt es, wie mit dem an Antony und Scott Walker erinnernden französischen Sänger Rover ein neuer Stern aufgeht.
Die Neugier ist in den Gesichtern zu lesen, wenn diese musikaffinen Menschen die Treppen zu Angie's Nightclub hochstürmen oder in den Schlund des Molotows hinunterstolpern. Es knistert vor jedem Auftritt, und wenn dann das erste Riff ertönt oder die erste Strophe gesungen ist, entlädt sich die Spannung - entweder mit einer geballten Faust, die sich dem Rhythmus entgegenschmettert, oder in der Hingabe konzentrierten Zuhörens.
"Toll, wie offen, neugierig und leidenschaftlich sich diese Stadt für Musik starkmacht", staunt der junge Electro-Pop-Schlacks Asbjørn aus Dänemarks Pop-Kapitale Aarhus vor seinem Auftritt im Indra. Rob Drake aus Toronto und seine Retro-Rockband Zeus sind nach ihrem Showcase im Hörsaal ebenfalls überrascht: "Es ist unglaublich, wie wild die Leute hier auf Bands sind, die noch völlig unbekannt sind." Sie genießen die Aufmerksamkeit und die Möglichkeiten, die der Kiez noch bietet. Zeus versackt nachts "in so einer Striptease-Touristenfalle", wie Drake sagt. Olivia Pedroli hingegen bleibt nach ihrem Auftritt mit melancholischem Dream-Pop in Angie's Nightclub am Hafen im Golden Pudel hängen, ist am nächsten frühen Nachmittag aber immer noch elektrisiert. "Normalerweise bevorzuge ich für meine Konzerte eine intimere Atmosphäre", sagt die Schweizerin. "Aber die Zuschauer haben hier so viele Alternativen, dass wir uns reingehängt haben wie Rock-'n'-Roll-Tiere, damit die Gäste nicht weiterziehen." Die Gäste ziehen nicht weiter, sondern erleben das vielleicht intensivste Konzert des Festivals.
Pedroli und die 294 anderen Bands und Künstler wissen, dass die ganze Meile ein Bienenschwarm voller Talentsucher ist. Normale Fans wie Booker, Veranstalter und Labelvertreter sehen, hören und betreiben Mundpropaganda, zum Beispiel im neuen Hotel Arcotel Onyx am Zirkusweg direkt neben dem Operettenhaus. Hier, im Schatten der Tanzenden Türme hat das Festival einen neuen zentralen Ort gefunden. In der Lobby lümmeln Delegierte herum und warten auf ihr nächstes Meeting, in einer Sitzgruppe wird angeregt über GEMA-Tarife diskutiert, und tief in der Nacht trifft man alte und neue Kollegen und tauscht sich darüber aus, welchen "geilen Act" man gerade entdeckt hat. Die Atmosphäre hat etwas von seligen PopKomm-Zeiten in Köln, wo das Hyatt am Rheinufer sich ein paar Tage lang in ein Rock-'n'-Roll- Hotel verwandelte.
Vor dem Onyx vermischen sich besonders am Sonnabend herkömmlicher Kiezwahnsinn, die Gier auf Vergnügen, mit der Lust auf Livemusik. Viktor Hacker hütet jetzt die Tür des Headcrash, wo der Däne Vinnie Who zum Disco-Funk-Tanz bittet. Es ist voll, aber die Lage ist entspannt. "Bis nächstes Jahr", rufen wir ihm zu, "hau rein!"