Anna Netrebko, die derzeit berühmteste Diva des Operngesangs, braucht die Herzen ihrer Zuhörer nicht mehr zu erobern, denn sie gehören ihr bereits.
Hamburg. Als die derzeit berühmteste Diva des Operngesangs am Mittwochabend in ihrer atemberaubenden Robe die Bühne der Laeiszhalle betritt, träumt man für eine kleine Sekunde, man sei Oskar Matzerath und dürfe unter ihren Röcken kaschubischen Ausmaßes verschwinden und von dort ihrer betörend schönen Stimme lauschen. Doch dann reißen wir uns zusammen, bleiben brav sitzen und lassen Ohren und Gemüt in diesem unbeschreiblich weiblichen Gesangsklang baden, den die Netrebko in der Kavatine der Ludmilla „Grustno Mne“ aus Glinkas „Ruslan und Ludmilla“ aus ihrer Kehle strömen lässt.
Ihr immer schon eminent sinnlicher Sopran ist mit den Jahren noch körperlicher geworden. Jeden Ton modelliert sie wie die Klang gewordene Entsprechung jener Kurven, die den Herzschlag der Männer beschleunigen. Doch ein kokettes Weibchen ist sie nicht; sie singt mit einer wunderbaren Power und Natürlichkeit. Ihre herrliche Stimme ist schön in der Tiefe abgedunkelt und besitzt eine fast gefährliche Strahlkraft in der Höhe. Beim Lied der Sylva Varescu „Heia, heia! In den Bergen ist mein Heimatland“ aus der „Csárdásfürstin“ wackelte die Koordination zwischen Solistin und Orchester, in der Arie „Un bel di vedremo“ in Puccinis „Madame Butterfly“ ereilte Anna Netrebko eine winzige Indisposition, mit der sie allerdings perfekt zurechtkam.
Die Sängerin selbst wirkt glücklicher als bei ihren beiden vorangegangenen Auftritten in Hamburg im CCH und im Derbypark: gelöst, warmherzig, wie das ewige Mädchen aus dem Volke. Wenn der ordentliche Prager Philharmonische Chor ein paar Takte ohne sie singt, dann dreht sie sich um und hört den Sängern zu. Das freut den Chor – und das Publikum darf sich derweil an ihrer schönen Rückenansicht hungrig sehen.
Die Minsker Mezzosopranistin Ekaterina Semenchuk hatte Kleiderpech: sie sah aus wie von der Schneiderei Aschenputtel eingekleidet. Doch was zählen solche Äußerlichkeiten, wenn eine so subtil und feierlich mit ihrer die Tiefen furchtlos ergründenden Stimme umzugehen versteht? Die Semenchuk rettete an diesem Galaabend der Stars den musikalischen Ernst, der beim Eventcharakter dieser Veranstaltung manchmal ins Hintertreffen geriet. Erst in ihrer Zugabe, der „Carmen“-Arie, taute die Sängerin spürbar auf und ging auch darstellerisch etwas mehr aus sich heraus.
Damit hat Bryn Terfel nun gar keine Problem. Der Bassbariton aus Wales ist die geborene Rampensau, ein genialer Spieler und Hallodri, der sich kleine, markante schauspielerische Zutaten erlaubt, um dem Publikum seine jeweiligen Rollen zu verdeutlichen. Als Sportin’ Life aus „Porgy & Bess“ von George Gershwin gibt er genüsslich den Bad Boy mit Kippe im Maul und gotteslästerlichen Sprüchen. Terfel kann grölen und röhren, dass es eine Wonne ist. Als Typ ehrliche Haut mit Joe-Cocker-Appeal ist er sich auch nicht zu schade, dem fernsehfernen Publikum vor seiner Zugabe „The Impossible Dream“ aus „The Man From La Mancha“ von Mitch Leigh kurz den Zwischenstand des WM-Qualifikationsspiels Deutschland gegen Aserbaidschan durchzugeben – auf Deutsch. Dass ihm unsere Sprache mehr liegt als die französische – sein „Le veau d’or“ aus Gounods „Faust“ blieb komplett textunverständlich – bewies er zudem in dem anrührend schlicht und schön gesungenen Lied des Wolfram von Eschenbach „O du mein holder Abendstern“ aus dem „Tannhäuser“.
Die Prager Philharmonie pflügte sich wacker bis achtbar durch die inklusive Zugaben 20 Nummern des Abends. In den sängerlosen Piècen verdarb indes das stellenweise grotesk unverhältnismäßige Gefuchtel des Dirigenten Emmanuel Villaume den Genuss beim Blick auf die Bühne.Soll man es als Zeichen der Reife des Publikums werten, dass der absolute „Anna! Anna!“-Taumel ausblieb, die Leute sich erst ganz am Ende aus ihren Sitzen erhoben und dann allerdings in fast schon unhöflich träges rhythmisches Klatschen verfielen, das die drei Gesangsstars zu keinen weiteren Zugaben verlocken konnte? Der riesige Triumph jedenfalls war diese Gala nicht.
Um so mehr nährt er den Traum, Frau Netrebko mal einen ganzen Abend singen zu hören, ohne Verstärkung und auch ohne Kollegenauftrieb. Dito Bryn Terfel, dito Ekaterina Semenchuk. Dafür hätte bestimmt auch Oskar Matzerath seine Trommel gerührt.