Mitten in Europa wird ein Radiosender bestraft, weil er einen Song von Ice-T spielt. Wie bitte? Ja doch. Ein Gastbeitrag aus Budapest.
Es ging schneller als erwartet: Dank des Eifers der mächtigen Medienbehörde NMHH und des vorauseilenden Gehorsams einiger öffentlich-rechtlicher Senderchefs wurde den Ungarn schon vor dem Jahreswechsel vor Augen geführt, welche Folgen das neue Mediengesetz für ihr Land hat.
Die kleine Station Tílós Rádió, die in alternativen Kreisen Kultstatus genießt und in den 90er-Jahren ein Piratensender war - tilós bedeutet verboten -, hatte Anfang September 2010 vor 21 Uhr einen Song des Rappers Ice-T ausgestrahlt. Ice-T's Texte sind nicht gerade jugendfrei. Dieser war es auch nicht. Allerdings rappt er englisch, nicht ungarisch. Radioalltag in jedem anderen Land Europas.
Nur für die NMHH nicht. Die meldete vor Weihnachten den ersten Verstoß gegen das im Gesetz formulierte Verbot der Ausstrahlung jugendgefährdender Inhalte. Wie die NMHH Tílós Rádió bestrafen will, steht noch nicht fest. Denkbar ist eine Geldstrafe, sie würde die Existenz des kleinen Senders gefährden. Auch einen Frequenzentzug lässt das neue Mediengesetz zu.
Damit setzte die Aufsichtsbehörde ein deutliches und deutlich bedenkliches Signal: Die neue Medienbehörde wurde noch vor Inkrafttreten des Gesetzes aktiv, wendet dieses aber gleichzeitig rückwirkend an. Die im Gesetz schwammig formulierten Verhaltensmaßregeln wurden nicht etwa gegen eine der zahlreichen, einschlägigen Webseiten, Zeitungen oder Radiosender eingeklagt, die tagtäglich Hetztiraden gegen Roma, Juden, Homosexuelle und "Kommunisten" absetzen, sondern gegen einen ziemlich harmlosen Sender im linksalternativen Spektrum der Medienlandschaft, noch dazu gegen einen der ökonomisch schwächsten. Besonders absurd wird das ganze, wenn man es aus der Perspektive der Verteidiger der neuen Regelungen betrachtet, die damit vor allem "die ungarische Jugend" schützen wollte. Nun weiß nämlich auch der letzte Halbstarke im Land, was der Gangster-Rapper Ice-T für furchtbare Inhalte verbreitet, hielt es die Behörde nämlich für angebracht, eine amtliche ungarische Übersetzung des Textes zu veröffentlichen. Untersuchte man weitere gesendete Liedtexte, würde schnell klar, dass die Ice-T-Geschichte an den Haaren herbeigezogen wurde, man nur einen Vorwand suchte, loszuschlagen.
Auf dem symbolträchtigen Budapester Platz der Freiheit demonstrierten bereits im Dezember rund 1500 junge Leute gegen das Gesetz. Vorgestern thematisierte die führende Qualitätszeitung des Landes "Népszabadság", die dem Schweizer Ringier-Verlag gehört und dem linksliberalen Spektrum zuzurechnen ist, ebenso wie die linke Tageszeitung "Népszava" auf dem Titel die Gängelung der Presse. Beide Blätter verwiesen in mehreren Sprachen auf die Gefährdung der Pressefreiheit, was vor ihnen schon die Kulturzeitschriften "Magyar Narancs" und "Élet és Irodalom" getan hatten.
Die ungarischen Publikationen deutscher Medienhäuser wie der WAZ-Gruppe, der Axel-Springer AG, in der auch das Abendblatt erscheint, haben bislang geschwiegen. Und das Fernsehen? Enthielt sich auch. Weder die RTL Group noch ProSieben Sat.1 bezogen Position, dabei wurde gestern bekannt, dass auch gegen den Sender RTL Klub ein Verfahren eingeleitet wurde. Eine Sendung über einen Mord in einer Familie in Südungarn vom letzten Oktober wurde als zu "reißerisch", "jugend- und sogar erwachsenengefährdend" bewertet. RTL Klub, das alle Anschuldigungen zurückweist, gilt in Ungarn als linksliberaler Sender.
Im Staatsfunk wird jeder Protest gegen das Gesetz unterdrückt. So versetzte man den beliebten Moderator des Morgenmagazins "180 Minuten" in den Ruhestand, weil er in seiner Sendung mit einer Schweigeminute gegen die Einschränkung der Pressefreiheit protestierte. Sein Chef muss seither im Archiv arbeiten. Im Fernsehen wurde eine Sendung unterbrochen, weil ein Gast Protest anmeldete. Es erschien das Senderlogo, der Gast wurde aus dem Studio komplimentiert. Die westliche Kritik am Mediengesetz findet in den Hauptnachrichten nicht statt. Ungarische Kollegen berichten ganz offen von den Weisungen ihrer Verlagschefs, die sich eine "gefahrlose" Berichterstattung wünschen. Die Selbstzensur, schon zuvor eine gute Bekannte in den Redaktionsstuben, scheint dort nun endgültig eingezogen zu sein.
Der ungarische Staatspräsident Pál Schmitt verzichtete vor der Unterzeichnung des umstrittenen Gesetzes darauf, es dem Verfassungsgericht zur Prüfung vorzulegen. Offenbar haben es die Regierenden in Budapest nicht nötig, zumindest den Anschein von Rechtsstaatlichkeit zu wahren. Schmitt gehört ebenso wie Ministerpräsident Viktor Orbán der rechtspopulistischen Regierungspartei Fidesz an. Er wurde vom Premier in das Amt des Staatsoberhaupts gehievt. Die Fidesz erreichte bei den Wahlen vom vergangenen Frühjahr eine komfortable Zweidrittelmehrheit. Gegen Kritik aus dem Ausland scheint Orbán immun - dabei hat sein Land seit dem 1. Januar die EU-Ratspräsidentschaft inne.
In der offiziellen Kommentierung des erst jetzt im Wortlaut vorliegenden 108-seitigen Gesetzes steht, es diene dem Schutz der Jugend und den Interessen der Nation. Es mache die Medien "effizienter und verantwortlicher" und enthalte "keinen einzigen Passus, der europäischen Normen" widerspreche.
Wer das nicht so sieht, wird von der Fidesz als vorurteilsbehaftet, sozialistisch oder bestenfalls uninformiert bezeichnet. Orbáns Rhetorik erinnert immer mehr an die dunklen Zeiten, als in Ungarn das Regime von KP-Chef János Kádár an der Macht war. Dabei hatte Orbán behauptet, die Nachwehen dieser Zeit endgültig überwinden zu wollen. Doch er schuf ein Gesetz, das so für jeden Demokraten eigentlich nichtig sein müsste. Eine Einsicht, die den abhängigen Kollegen vor Ort im Moment wenig hilft und europäische Solidarität umso wichtiger macht.