Nach 15 Jahren Schaffenspause legen die Jungs ein verblüffend unpeinliches Dance-Album vor. Das neue Werk heißt Progress.
Hamburg. Natürlich muss im ersten Song des ersten Take-That-Albums in Komplettbesetzung seit 15 Jahren der verlorene Bursche die ersten Verse singen. "Standing in the edge of forever/ At the start of whatever/ Shouting love at the world", tönt es also aus Robbie Williams' Mund. Der Song heißt "The Flood" und befindet sich ganz gut im Fluss. Geschmeidig ist diese Synthiepopnummer, so geschmeidig wie die fünf Ruderer, die im Videoclip im perfekten Einklang durchs Wasser schießen. "They said we'd never dance again", singt Englands berühmtester Knabenchor triumphierend, jetzt betreibt man ja sogar Leibesertüchtigung zusammen. Sie sind ein Team, wer hätte das gedacht nach Kabbeleien, Eitelkeiten, Dramen, in deren Mittelpunkt stets der abtrünnige Robbie Williams stand. Es scheint ganz egal, dass für Take That der Ruder-Fünfer erst erfunden werden musste.
Heute erscheint "Progress", das sechste Album von Take That und das vierte mit Robbie, dem amüsanten Egozentriker aus Stoke-on-Trent. Die Boyband von einst ist, rein optisch, zur gediegenen Herrentruppe geworden, verabredet hat sie sich zum Defilee der schicken Schönlinge, die im Sportdress und auch sonst einen manierlichen Eindruck machen.
Aber gediegen ist der neue Sound von Take That gar nicht. Und das ist es auch, was die ohnehin schon unwahrscheinliche Wiedervereinigung dieser fünf 90er-Jahre-Untoten zu einer so verblüffenden Sache macht: Take That hat eine lupenreine Dance-Platte gemacht, sapperlot.
Auf "Progress" klingt die Teenagerband vergangener Tage natürlich nicht mehr nach schmalbrüstigem und schmalzigem Instantpop ("Everything Changes", "Back For Good"), aber eben auch nicht nach gereiftem, hymnischem Feelgood-Radiopop der späteren Take-That-Jahre ("Greatest Day").
Nein, "Progress" ist kein Revitalisierungsprogramm honoriger Hupfdohlen, die irgendwelche Anspruchshaltungen befriedigen wollen. So wenig nötig die Vereinigung der sehr erfolgreichen Take-That-Kernbesetzung mit Gary Barlow, Mark Owen, Jason Orange und Howard Donald mit dem Immer-noch-Superstar (trotz sinkender Plattenverkäufe) Robbie Williams aus Karriereerwägungen war, so interessant ist nun, wie die fünf Musiker der Nostalgiefalle entgehen. Es ist keine einzige poprockig gezupfte Gitarre auf "Progress" zu hören, dafür Synthesizerflächen und Discobeats, sie sind keinesfalls lieblich, sondern stampfend im Uptempo unterwegs ("SOS", "Kidz").
Womit wir beim berechenbaren Teil der neuerfundenen Popgruppe wären: Produziert wurde "Progress" von Stuart Price, der einst die nicht nur in einschlägigen Kreisen innig geliebte Synthie-Band Zoot Woman gründete und zuletzt Madonna und Kylie Minogue seine Dance-Rezeptur verpasste.
Price ist ein Profi, der es grundsätzlich schafft, seine Kunden frisch klingen zu lassen, und deshalb hört sich "Progress" in seinen guten Momenten tatsächlich wie eine Platte der Pet Shop Boys an. In den schlechten klingt sie nach ordinärem Proll-Dance.
Aber es ist wahrscheinlich eh egal, ob und welche ästhetischen Wagnisse die Band eingeht. Was zählt, ist der bei alten Fans epochale und in der Popmusik nie zu unterschätzende Moment der Rührung: Sie stehen wieder gemeinsam auf der Bühne, und wir begeben uns auf eine sentimentale Reise in die Vergangenheit, als wir Robbie und Mark Teddybären auf die Bühne warfen. Peinlich ist an dieser Reunion jedenfalls nichts - sieht man einmal von dem Versöhnungsduett "Shame" (von der Williams-Werkschau "In and Out of Consciousness") ab, mit dem Williams und Barlow ihr Kriegsbeil zuletzt endgültig begruben. Die Tournee daheim in Großbritannien war binnen drei Stunden ausverkauft, fast anderthalb Millionen Tickets gingen in diesem knapp bemessenen Zeitraum weg. Und "Progress", in England zwei Tage früher als auf dem Festland veröffentlicht, verkaufte sich am ersten Tag gleich 235 000-mal. Die Kritiken der ersten Hörer sind gemischt: Während die einen die alten Stadionballaden vermissen, loben die anderen die in der Binnenlogik des Gesamtwerks experimentelle Herangehensweise der Musiker.
Am ehesten sind die Klangmuster und Songideen auf "Progress" wohl mit dem vorletzten Williams-Werk "Rudebox" zu vergleichen. Auf dem tobte sich der offensichtlich von sich selbst gelangweilte Musiker aus, man hörte einen Song namens "She's Madonna" und eine weitere Pet-Shop-Boys-Kollaboration. Die Hingabe an die klassische Tanzmusik der 80er-Jahre ist das, was Robbie Williams seinen Bandkollegen als künstlerisch gewinnbringende Haltung verkauft haben muss. So ist es nur konsequent, dass seine Stimme in den jubilierenden Gesangslinien am häufigsten zu vernehmen ist.
Wer sich bei hämmernden Discoknallern wie "Affirmation" auf der falschen Party wähnt, wird den Tanzboden nicht unbedingt betreten, den neuen Sound aber tapfer ertragen und beim Konzert auf die Stadionhymnen von früher hoffen: Als fünf Goldkehlchen allerlei Belangloses so entrückt vortrugen, dass die Mädchen gleich reihenweise ohnmächtig wurden.
Anderthalb Jahrzehnte später weckt sie ein amtlicher Beat aus romantischen Prinzessinenträumen. Daran kann nichts Schlechtes sein.