Der TÜV hat gravierende Mängel im Schauspielhaus festgestellt. Dort wird es immer schwieriger, die Sicherheit der Mitarbeiter zu gewährleisten.
Hamburg. Neue Fenster sind drin, energieoptimiert, das verringert die CO2-Produktion. Neue Schaukästen werden angeschraubt, die Gerüstbauer packen Stangen, Bretter und Planen zusammen, und die Maler tupfen glänzendes Weiß auf die letzten Stellen der Fassade des Deutschen Schauspielhauses, die noch zu verschönern sind. Die Sonne scheint, von außen ist alles in Ordnung zwischen Kirchenallee und Hansaplatz. Diesen Sonntag geht die erste Premiere der neuen Spielzeit über die große Bühne: Wedekind, "Frühlings Erwachen". Drinnen ist von Sonne und Frühling nicht viel zu spüren. Dafür sorgt die seit vielen Jahren immer hinfälliger werdende Bühnenmaschinerie - und die DIN-Norm 5659.
Hintergrund: Sanierungsfall Schauspielhaus
Der TÜV Nord hat nämlich nach Abendblatt-Informationen bei einer routinemäßigen Prüfung einen weiteren gravierenden Systemmangel in seinem Prüfbericht festgehalten: Abweichend von DIN 5659 stoppen die Züge der Obermaschinerie, die die Kulissenteile bewegen, nicht automatisch sofort, wenn man den Befehlstaster loslässt. Das müssten sie aber, um im Notfall schnellstmöglich anzuhalten.
DIN 5659 ist nicht neu, es gibt sie seit Anfang der 90er-Jahre; jetzt aber wird sie zum Problemfall: weil die immer wieder in Aussicht gestellte Sanierung der Bühnentechnik ein weiteres Jahr verschoben wurde. Erhoffter Beginn: Juni 2012. Der TÜV verpflichtete das Schauspielhaus zu Gesprächen mit der Unfallkasse Nord.
Und die bestand am Mittwoch auf umfangreichen Sicherungsvorkehrungen: schärfere und häufigere Kontrollen, ausführlichere Betriebsanweisungen und Dokumentationen, mehr Training für die Mitarbeiter. Teile müssen erneuert werden. "Der personalintensive Prüf- und Wartungsaufwand nimmt immer mehr Zeit von der Dienstleistung für die Kunst weg", stellt Hans-Joachim Rau fest. Es wird immer aufwendiger, die Sicherheit auf der Bühne zu garantieren.
Er ist technischer Direktor des Schauspielhauses, steht für die Sicherheit aller Mitarbeiter gerade und ist immer häufiger mit technischem Krisenmanagement beschäftigt. Seine Ersatzteillager leeren sich rapide. Ganze dreimal wurde ein Hydrauliksystem wie im Schauspielhaus gebaut. Deshalb hat man, als in der Staatsoper 2000 die Steuerung erneuert wurde, die Bauteile von dort an der Kirchenallee gebunkert. Sie werden nämlich seit Jahren nicht mehr gefertigt.
Und das bedeutet, dass die Bühnentechnik immer näher an den Zeitpunkt herankommt, wo einzelne Komponenten stillgelegt werden müssen, weil sie nicht mehr repariert werden können.
Seit Jahren werden deshalb im Schauspielhaus trickreich die Tücken des Systems überbrückt - durch erhöhten Aufwand, damit die Sicherheit auf der Bühne gewährleistet ist. Schirmer sagt: "Theater ist ohne den vertrauensvollen Aufenthalt unter schwebenden Lasten nicht zu machen." - "Mit Sicherheit Kunst" heißt das Motto der Arbeitsschützer im Schauspielhaus.
Bisher habe man immer alles hinbekommen, was die Kunst eingefordert habe, sagt Hans-Joachim Rau. Immer häufiger aber seien auch Routineabläufe in der Bühnentechnik nur durch aufwendiges Zusatzequipment sicherzustellen. Beispiele? "Der schwebende Kasten in 'Romeo und Julia', der Fahrstuhl in der 'Dreigroschenoper' - alles extra eingebaute Kettenzüge."
Inzwischen aber muss er schon mal Regisseuren klarmachen, dass Dinge, die in anderen Häusern Standard sind, am Schauspielhaus so nicht mehr zu realisieren sind; das kratzt an seiner Ehre. Es wird trotzdem nicht lange dauern, bis das bei Regisseuren und dann beim Publikum Negativpunkte für das Haus gibt.
Auch Intendant Friedrich Schirmer sorgt sich um die Zuschauer, die er jede Saison mit den Leistungen des Hauses überzeugen muss. Noch sind die Zahlen gut. Inklusive Fremdbespielungen, exklusive Sommerbespielung liegen sie in der laufenden Spielzeit bei knapp 230 000, mehr als 30 000 über der besten Saison des Vorgängers Tom Stromberg und über der zweitbesten Saison des hoch gelobten Frank Baumbauer.
Mit Hoffnung und Bangen sieht die Schauspielhaus-Crew der Senatsklausur am 22. September entgegen, auf der über die Sanierung der Bühnentechnik entschieden werden soll. Noch ist es ausgemacht, dass dann der 18,5 Millionen Euro teure Umbau des Bühnenturms mit neuer Ober- und Untermaschinerie und Drehbühne bewilligt wird. Der könnte dann im Juni 2012 beginnen. Dann sind die Improvisationsreserven des Hauses aber auch definitiv aufgebraucht. Schon jetzt verursachen Austauschteile, die der TÜV verlangt, Kosten, die bei einer rechtzeitigen Sanierung gar nicht angefallen wären.
"Man zeigt irgendwann Ermüdungserscheinungen", sagt Friedrich Schirmer, "es ist, als hätten Sie ein Auto, das noch mit Holzgas betrieben werden muss." Er versucht optimistisch zu wirken. Die Geschäftsführer müssten sich jeden Tag neu fragen, wie lange sie die Sicherheit der Mitarbeiter auf der Bühne ebenso gewährleisten können wie die künstlerische Qualität.
Der kaufmännische Direktor Jack Kurfess sagt: "Sollte wider Erwarten die Sanierung 2012 nicht beginnen, dann ist das Haus technisch so nicht weiterzubetreiben." Dann könne man kein modernes, zeitgenössisches Theater mehr zeigen.
Muss man dann nicht als Theaterleitung sagen: Unter diesen Bedingungen können wir das Haus nicht länger führen? Schirmer zögert mit der Antwort und sagt: "Das werden wir dann sehr genau überlegen."
Auf den Fluren im Schauspielhaus allerdings fragt man sich heute schon manchmal angesichts des Sanierungsstaus, ob damit nicht doch schleichend die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, das größte deutsche Sprechtheater irgendwann einfach stilllegen zu können.
Noch aber überwiegt das Prinzip Hoffnung, "der neue Kultursenator Reinhard Stuth war ja mal Staatsrat in der Kulturbehörde und müsste die Situation noch aus den Akten gut kennen", sagt Schirmer.
An der Kirchenallee scheint immer noch die Sonne, die blendend weiße Fassade strahlt in ihrem neuen Glanz. Am Sonntag ist Premiere, Wedekind, "Frühlings Erwachen", da muss auch drinnen wieder alles laufen wie geschmiert. Draußen ist alles in Ordnung. Drinnen dauert es noch.