Hamburg müsse Kultur zum Wahlkampfthema machen und sich qualitativ verbessern, sagt der Ex-Thalia-Intendant.
Salzburg. Vielleicht ist es dieser Blick, mit dem Jürgen Flimm, 69, ständig und fast unbemerkt durch den Festspielbezirk stromert. Er ist auf einmal da, bevor die "Lulu"-Hauptprobe in der Felsenreitschule beginnt und die Nerven vieler Beteiligter flattern; plaudert hier ein wenig, hört dort zu. Beim Premieren-Vorgespräch für Rihms "Dionysos" dämmerte er vor sich hin, um zielsicher einen Einzeiler rauszuhauen: "Wenn Mitwirkende auf der Bühne sind, ist das künstlerisch wertvoll, budgetmäßig aber auch."
In den letzten zehn Jahren - vier davon als Chef fürs Ganze - hat Flimm bei den Salzburger Festspielen die hohe Kunst verfeinert, durch halb geschlossene Augen so zu tun, als würde er nur sehr wenig mitbekommen. Das täuscht. Soll es ja auch. Schon weil Salzburg Salzburg ist, eine verschärfte Variante von Österreich also, tut man als importierter Intendant gut daran, sich nie auf andere zu verlassen, erst recht nicht in der Chefetage von einem der bekanntesten Festivals der Welt, zu dem alle kommen. Deswegen gratuliert der Hollywood-Star Val Kilmer, vom Sponsor Montblanc eingeflogen, mit einem "Amazing!" dem glücklich aufgeregten "Lulu"-Bühnenbild-Lieferanten Daniel Richter. Claus Peymann gönnt sich nach der Rihm-Uraufführung noch eine Melonenbowle auf dem Universitätsplatz, Ingo Metzmacher und der Hamburger "Ring"-Regisseur Claus Guth begegnen einem rund um die Künstler-Mittagstische im "Triangel".
Wie bereichernd das Kulturklima hier für alle ist, zeigt auch das Miteinander der engagierten Künstler. Thomas J. Mayer, der an der Hamburger Staatsoper als Wotan-Einspringer punktete und hier in der "Lulu" den Tierbändiger singt, muss offenbar erst nach Salzburg kommen, um den Ex-Thalia-Star Peter Jordan kennenzulernen, ganz ohne das übliche Kantinen-Aufplustern. "Die Egos sind hier etwas reduziert. Der Ort stiftet Wohlgefallen bei den Leuten", erklärt Flimm diesen Ausnahmezustand. "Keiner bedroht den anderen. Bei einem Repertoirebetrieb ist das schon etwas schwieriger, die hängen das ganze Jahr aufeinander."
Dieses Jahr ist Flimms letzter Sommer mit sechs kräftezehrenden 60-oder-mehr-Stunden-Wochen an der Salzach. Vom Herbst an bildet der frühere Hamburger Thalia-Intendant mit Daniel Barenboim das Führungsduo der Berliner Lindenoper, die wegen Renovierung ins Schillertheater umzieht. Eine Herkulesaufgabe, genau nach Flimms Gusto. Dicke Bretter auf hohem Niveau bohrt der "Konzeptpapst, Chefkommunikator, Paradiesvogel" ("Süddeutsche Zeitung") am liebsten.
Eigentlich sollte sich das Gespräch im Intendantenbüro um das eigene Gehen und Kommen drehen, doch die akute Hamburger Situation diktiert andere Dinge in den Block; auch Flimm ist nun, wie so viele mit Hamburger Wurzeln, Bald-Berliner. Marius Müller-Westernhagen hat ihn deswegen auch schon angerufen. Was läuft chronisch falsch an der Elbe, dass so viele an die Spree abwandern? "Die Berliner investieren viel, auch weil sie wissen, dass Kultur ein ganz großer Wirtschaftsfaktor ist", antwortet Flimm. "Hamburg hat nur eine Chance, wenn man sich qualitativ verbessert", findet er. "Aber das müsste man auch wollen. Man kann nur mit Berlin konkurrieren, wenn man investiert. Sonst wird der Exodus noch größer. Auf jeden Fall muss man das Kultursenatoren-Amt behalten und sich dann eine starke Figur ausgucken. Aber das ist schwer, wir sind in der Republik damit nicht reich gesegnet."
In der Hauptstadt habe er mit dem Modell, dass der Bürgermeister auch direkt für Kultur zuständig sei, gute Erfahrungen gemacht. Andererseits: "Es hängt von Personen ab. Der Regierungschef muss natürlich auch kulturinteressiert sein. Wenn er nicht kulturaffin ist, wird es bitter. Dann verkommt das zu einer Dienststelle."
In kürzester Zeit schraubt Flimm sich vom gemütlichen Vormittagsflüstern in deutliche Kultur-Strippenzieher-Rage: "Man muss Politikern immer wieder ins Stammbuch schreiben, wie viele Menschen täglich das Kulturangebot nutzen. Wenn man das zusammenzählt, werden sie merken, dass das eine große, interessante und unglaublich konsequente Klientel ist. Das sind Premium-Wähler. Das muss man ihnen klarmachen. Die Berliner, die arm, aber sexy sind, haben das kapiert. Mit sehr wenig Geld kann man in der Kultur schon sehr viel Wirkung erzielen. Dass ein Museum in Hamburg wegen 200 000 Euro geschlossen werden sollte, ist ein unfasslicher Skandal. Das ist doch auch Kafka. Was man Hamburg früher vorgeworfen hat, das mit den Pfeffersäcken, was nicht stimmte, das kommt jetzt wieder. Wenn man nicht weiß, dass Kultur auch Überlebensstrategien und Zivilisationsvorsorgen liefert, dann wird das nichts mit dem Image, dann gehen alle weg. Ich finde das Verhalten der Stadt unglaublich kurzsichtig und unvernünftig." Ähnlich "kafkaesk" findet er das Elbphilharmonie-Planungsdesaster, und auch für die klassische Hanseaten-Mentalität findet er deutliche Worte: "Die Stadt besteht nicht nur aus Kaffeehandel und Import/Export, sie hat eine große Kunst- und Theater-Tradition. Es waren doch alle mal da. Man muss doch wissen, dass das zu einer urbanen Qualität gehört - und nicht nur das Verkaufen von Bratwürsten auf der zugefrorenen Alster."
Für die "unglaublich spannende" Opernchef-Offerte aus Berlin hat Flimm den Job eines NRW-Festival-Koordinators ausgeschlagen, ebenso das Angebot, sechs Monate an die Juilliard School in New York zu gehen. "Senatorabel" für Hamburg fühlt er sich aber nicht. "Diese Gremien, das ist nicht mein Ort. Nach Hamburg komme ich irgendwann wieder zurück, aber sicher nicht, um mir im Kulturausschuss ein paar hinter die Löffel geben zu lassen."
Seine Diagnose der Hamburger Zustände ist bezeichnend: "Mir kommt das vor wie ,auf der Stelle treten', der Status quo lebt weiter und weiter - außer im Thalia, der Lux macht das wirklich gut und hat ein tolles Ensemble. Ich hab am Anfang zwar gegen ihn im Abendblatt geschimpft, aber inzwischen sind wir wieder gut miteinander. Diese Zementierung des Zustands ist ganz schwierig, und wenn dem Status quo auch noch durch unsinnige Sparmaßnahmen Geld weggenommen wird, wird es eine ziemlich armselige Veranstaltung und ganz furchtbar." Und bevor es zum nächsten Termin geht, gibt es noch einen letzten guten Rat mit auf den Weg: "Sollte es eine Neuwahl geben, würde ich denen zu einem Wahlkampf raten, bei dem Kultur eine ganz große Rolle spielt. Denn die Premium-Wähler, die gehen wählen. Das hat man ja beim Thema Schulreform gesehen."