Ernst Cramer musste vor den Nazis fliehen. In der “Welt“ erzählte der Journalist, der nun 96-jährig starb, noch vor kurzem seine Geschichte.

Vor 70 Jahren musste der junge Ernst Cramer vor den Nazis über Holland und Großbritannien nach Amerika fliehen. Hier erzählt er seine Geschichte.

Der Zug ratterte. Es war der 4. August vor 70 Jahren. Die Holzbänke waren hart. Doch ich fühlte keine Beschwerden, nicht nur, weil ich jung war.

Zwei Seelen wohnten in meiner Brust. Einerseits war ich froh, den Übeltätern zu entkommen, welche die Juden in Deutschland seit Jahren gedemütigt und entrechtet hatten, vor den Schergen zu fliehen, die mir und vielen anderen die Bürgerrechte geraubt und uns in "Schutzhaft" genommen und dann in Konzentrationslagern misshandelt und gepeinigt hatten. Ich war glücklich, dass es für mich kein "Zurück nach Buchenwald" mehr geben würde, wie es mir vor Kurzem ein Gestapo-Mann in Breslau angedroht hatte.

Aber ich war auch besorgt, ja beunruhigt, wegen des Schicksals meiner Eltern und meines jüngeren Bruders, die ich zurücklassen musste (und die später nach Ostpolen deportiert wurden, wo sich ihre Spuren verloren; das aber konnte ich im Sommer 1939 noch nicht wissen, nicht einmal ahnen).

Aber daneben war noch eine andere, tiefe Traurigkeit. Ich war aufgewachsen als Deutscher und wurde so erzogen. Das führten hauptsächlich meine Eltern durch, aber auch die Umgebung wirkte mit und sogar der jüdische Religionslehrer, ein Rabbiner. Dieser - nicht ein Deutsch-Professor - hatte auch mein Interesse für Goethe erweckt, von dem ja das Zitat von den "zwei Seelen" stammt. Das Deutschtum war mir selbstverständlich, war Teil von mir, trotz mancher antisemitischen Rüpeleien während meiner Schulzeit.

Nun also musste ich - die andere, praktischere Seite meines Ichs meinte "durfte ich" - Deutschland verlassen. In diesen Stunden der rumpelnden Eisenbahnfahrt vermengten sich Bilder und Gedanken, lösten sich immer wieder ab. Da war der Ärger darüber, dass ausländische Staatsmänner Adolf Hitler viel von dem erlaubten, was sie den Vertretern der Weimarer Republik immer wieder untersagt hatten.

Da war die Erinnerung an den regennassen, verschlammten Appellplatz in Buchenwald und die johlenden, überheblichen Wärter in ihren SS-Uniformen. Da waren die vielen Freunde, die ganz plötzlich keine mehr sein wollten. Und da waren auch die Gelehrten, die Akademiker, die sich bereitwillig der hitlerschen Rassenpolitik gefügt, ja, sie unterstützt hatten. Kurzum, die ganze Umwelt war feindselig geworden.

Daneben gab es jedoch die Retrospektiven an unvergessliche Bergbesteigungen und reizvolle Wanderungen in den Flussauen in Bayern; oder an die Gespräche über Gott und die Welt mit vielen ehemaligen Gefährten.

Ich entsann mich übler Gestapo-Beamter und antisemitischer Knechte auf dem Gut, in dem ich zum Landwirt ausgebildet worden war. Aber die Gedanken führten mich auch zurück zu großen Theaterabenden und denkwürdigen Konzerten.

Und dann meine Bücher! Keines - außer einer Taschenausgabe von Platos "Gastmahl" - hatte ich mitnehmen können. In diesem Moment dachte ich auch an die Bücherverbrennungen vom 10. Mai 1933, die Schandtaten von Studenten und auch Professoren.

Zum Glück kam mir Heines aus "Almansor" stammender Satz, "Wo man Bücher verbrennt, verbrennt man auch am Ende Menschen", damals nicht in den Sinn.

Der Zug rollte der niederländischen Grenze zu. Die Freude über das baldige Ende der Erniedrigungen wurde immer wieder überweht von der Sorge um die Zurückgebliebenen und der Trauer um den Verlust der Heimat. Dass ich jemals zurückkommen würde, daran glaubte ich in jenen Stunden nicht. Am Grenzpunkt bei Bentheim ging alles schnell vor sich. "Hast du alle nötigen Unterlagen und Stempel?", fragte mich unwirsch ein deutscher Grenzbeamter, der das Parteiabzeichen prominent auf seiner grünen Uniform trug. Da ich am 21. Juli 1939 in Berlin ein amerikanisches Einwanderungsvisum bekommen hatte und auch die Durchreisegenehmigung durch England im Pass vermerkt war, nickte ich nur; nach der Durchsuchung meines Gepäcks und einer erniedrigenden Leibesvisitation durfte ich passieren.

"Sie sind herzlich willkommen, mein Herr", empfing mich wenige Schritte weiter sehr höflich ein holländischer Grenzer. Ich war in Freiheit, erlöst von jedem politischen Zwang.

In diesem Moment war ich glücklich, den nationalsozialistischen Übeltätern entronnen zu sein, aber gleichzeitig in Sorge um die Zurückgebliebenen. Vielen war ich dankbar, die mir die Auswanderung, die ja eigentlich eine Flucht war, ermöglicht hatten. Aber ich war auch wehmütig und bedrückt, weil ich das Land, das ich immer als mein Land betrachtet hatte, verlassen musste.

In Holland besuchte ich Freunde in Amsterdam und einem Ausbildungslager, das auf Wieringen errichtet worden war (Joodse Werkdorp Nieuwesluis). Viele dieser Kameraden wurden später deportiert und schließlich irgendwo im Osten Polens umgebracht.

Kurz darauf - am 7. August 1939 - traf ich in London den aus München ausgewanderten Bruder meines Vaters, der schon die Ausreise seiner Schwester und deren Familie finanziert hatte und sich auch um meine Eltern kümmern wollte.

Am 11. August 1939 begab ich mich in Southampton auf dem Dampfer "Manhattan" der "United States Lines", wo ich einige Bekannte und Freunde wiedertraf. Und ich dachte daran, dass genau an diesem Tag 20 Jahre vorher - also am 11. August 1919 - Reichspräsident Friedrich Ebert die Verfassung der Weimarer Republik unterzeichnet hatte, die damals als eine der besten der Welt galt. An jenem Tag war auch die schwarz-weiß-rote Flagge Deutschlands durch Schwarz-Rot-Gold ersetzt worden, was die Nazis allerdings schon im März 1933 wieder rückgängig gemacht hatten.

Die Überfahrt war eintönig. Von den Schätzen, die der Ozeanriese in vielen Abteilungen anbot, konnte ich mir nichts leisten. Ich hatte ja - wie damals alle Auswanderer - nur zehn Reichsmark mitnehmen dürfen, und die hütete ich wie ein Juwel. In New York betrat ich am 18. August 1939 nicht nur eine fremde Stadt, sondern eine neue Welt; zum ersten Mal in meinem Leben war ich in einem anderen Erdteil. Begierig stürzte ich mich auf alles Neue, Unbekannte und sehnte mich doch gleichzeitig zurück.

Schon am nächsten Tag fuhr ich weiter, meinem Ziel im Staate Virginia zu. Dort hatte ein Richmonder Philanthrop eine Tabakfarm in der Absicht erworben, sie vertriebenen jüdischen Einwanderern mit landwirtschaftlichen Kenntnissen zur Verfügung zu stellen. Die Fahrkarte hatte ich von einer der vielen Hilfsorganisationen erhalten.

In dem Greyhound-Omnibus setzte ich mich in eine der hinteren Reihen, da es vorne ziemlich voll war. Das ging gut über Philadelphia und Baltimore. In der Landeshauptstadt Washington aber forderte mich ein Angestellter der Busgesellschaft ziemlich barsch auf, vorne im Fahrzeug Platz zu nehmen. Auf meine Frage "Warum?" erklärte er lakonisch, wir kämen jetzt in den "Süden", und da müssten Weiße vorne, aber die farbigen Passagiere - er gebrauchte einen anderen, schimpflichen Ausdruck, der heute zum Glück nicht mehr verwendet wird - hinten sitzen.

Ich nahm also einen der vorderen Sitze ein und verstand die Welt nicht mehr. Vor wenigen Tagen erst war ich einer Rassenverfolgung entflohen. Jetzt - im gelobten Land der Freiheit - fand ich wieder einen - wenn auch weniger gefährlichen - Rassenwahn und gehörte ganz automatisch der bevorzugten Gruppe an; daran konnte ich mich nie gewöhnen.

Auf der Farm, etwa 100 Kilometer südlich von Richmond gelegen, wurde ich sofort zur Arbeit, zum Entlausen der Tabakpflanzen, eingeteilt. Aber bald schon nahm ich ein paar Tage frei und fuhr - wieder in einem Greyhound-Bus - gen Houston. Dort lebte seit einiger Zeit meine Schwester; dort wohnten auch entfernte Verwandte; Brüder meines Großvaters waren in den 80er-Jahren des 19. Jahrhunderts nach Amerika ausgewandert. Ich hegte die Hoffnung, einige davon überreden zu können, für meine Eltern ein "Affidavit" - das notwendige Einwanderungspapier, eine Art Bürgschaft - zu geben.

Bei einem Halt in Montgomery (Alabama) - es war der 23. August 1939 - erfuhren wir Passagiere, dass es zu einem deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt gekommen war, dass die Erzfeinde Adolf Hitler und Josef Stalin zusammengefunden hatten. Mir war sofort klar, dass das zu einer neuen Teilung Polens, zu einem Krieg in Zentraleuropa führen würde.

In Houston traf ich auf viel Mitgefühl, aber wenig Hilfe. Man wollte mich auch mit einer nicht sehr attraktiven jungen Frau verkuppeln und konnte nicht verstehen, dass ich nicht anbiss. Ich hörte zwei ältere Damen plappern: "Der Junge aus Deutschland hat keinen Pfennig Geld, und Lea" - so hieß das Mädchen - "ist doch ziemlich gut situiert; schließlich ist das alles, was zählt." (Später erfuhr ich, dass Lea einen anderen Mann fand und eine recht glückliche Ehe führen konnte.)

Als am 1. September 1939 der Krieg ausbrach, das heißt, als Hitlerdeutschland mit der Beschießung der polnischen Westerplatte durch den Panzerkreuzer "Schleswig-Holstein" die Feindseligkeiten begann, war ich wieder auf der Farm in Virginia. Bei der Arbeit auf den Feldern unterstützten uns sogenannte tenant farmers, das waren Pächter, die für ihr Land nichts zahlen mussten - konnten! - und stattdessen ihre Arbeitskräfte zur Verfügung stellten. Auf unserer Farm war das eine bigotte, bitterarme weiße Familie; auf benachbarten Gütern arbeiteten auch farbige Pächter.

Relativ bald konnte ich ein College besuchen. Es lag in Mississippi, einem Staat, in dem damals die Rassentrennung besonders rigoros durchgeführt wurde. Einmal hielt ich ein Referat über den Nationalsozialismus. Zum Schluss sagte ich, Rassenverfolgung sei ein Unrecht, wo immer es geschehe. Nach meinem Vortrag sprach mich ein weißhaariger Mann an - später erfuhr ich, es war ein Senator -, er sagte: "Eine recht schöne Rede, junger Mann; aber damit werden Sie in Mississippi nicht weit kommen." (Zum Glück ist das heute, fast sieben Jahrzehnte später, nicht mehr relevant. Ein "Farbiger" ist Präsident der Vereinigten Staaten; Afroamerikaner waren Außenminister. In den USA gibt es, ebenso wie in Deutschland, fast keine Rassenprobleme mehr.)

Vor 70 Jahren also musste ich meine Heimat verlassen. Schon fünf Jahre später war ich allerdings wieder in Europa. Als amerikanischer Soldat wollte ich mithelfen, Freiheit und Demokratie wieder zurückzubringen - hauptsächlich nach Deutschland.

Im westlichen Teil des alten Kontinents ist das auch bald weitgehend gelungen. Aber man musste noch 45 Jahre warten - viel länger, als die Weimarer Republik und das Dritte Reich zusammen dauerten, ja fast so lange, wie das 1871 gegründete Kaiserreich bestanden hatte -, bis diese Freiheit, von Deutschland ausgehend, ganz Europa erfassen konnte. Das geschah am 9. November 1989.

Noch immer wetteifern heute zwei Seelen in meiner Brust. Die eine ist entsetzt über das viele Unrecht, das von Deutschen - nicht nur an meinen Eltern und meinem Bruder - während des Dritten Reiches begangen wurde. Die andere ist glücklich, dass wir in Deutschland wieder in einer anderen, vernünftigeren, einfach einer anständigen Welt leben. Die letztere ist die ausschlaggebende.

Fazit: 70 Jahre später bin ich wieder daheim.

Quelle: Welt online, 1. August 2009