Zur Buch-Premiere der “Geschichte der Juden in Deutschland“ hielt Ernst Cramer, Vorstandsvorsitzender der Axel-Springer-Stiftung, im Warburg-Haus eine bewegende Rede. Wir dokumentieren sie hier im Wortlaut:

"Bitte entschuldigen Sie, dass ich Sie nicht formell und mit Ihren Titeln anrede. Aber ich habe das Gefühl, hier unter Freunden zu sein. Wer den Weg zu dieser Buch-Präsentation ins Warburg-Haus findet, kann nur ein Freund sein. Deshalb: Liebe Freunde!

Gleich nach dem Krieg wurde ein Gedicht bekannt, dessen erschütterndste Strophe lautet: ,Der Tod ist ein Meister aus Deutschland.' Heute, mehr als sechzig Jahre später, können wir gottlob sagen: ,Der Tod war ein Meister aus Deutschland.'

Wir stellen heute das reich bebilderte Buch ,Die Geschichte der Juden in Deutschland' vor. Das ist eine Geschichte, die wohl schon unter den Römern begann, lange also, ehe es ein Deutschland gab. Eine Geschichte zudem, die viele immer wieder auslöschen wollten, nicht nur Hitler, die aber trotzdem noch immer weitergeht. Der letzte große deutsch-jüdische Rabbiner, Dr. Leo Baeck, hatte zwar gesagt, die Geschichte der Juden in Deutschland sei ein für alle Mal vorbei; er hatte aber auch darauf hingewiesen, dass es jüdische Bestimmung sei, immer wieder aufzubauen, gleichgültig, was geschehen sein mag.

Es gibt heute in Deutschland wieder jüdische Gemeinden. Aber die Juden sind fast alle Zuwanderer. Einige sind schon ein halbes Jahrhundert im Land, andere wanderten nach dem Untergang der Sowjetunion ein. Doch es sind keine deutschen Juden, wie sie in deutschen Landen über Jahrhunderte heimisch geworden sind. Menschen, die sich hier in diesem herrlichen Rahmen, diesem zutiefst deutschen Raum, sehr wohl gefühlt hätten.

Die deutschen Juden wurden von den Nationalsozialisten entrechtet, vertrieben, ja umgebracht. Das deutsche Judentum von einst, über das auch das Buch ,Die Geschichte der deutschen Juden' viel erzählt, gibt es nicht mehr.

Wenn wir das Buch in die Hand nehmen, finden wir auf der Titelseite die Berliner ,Neue Synagoge'. Wir sehen ein Bild dieses großen Tempels, der im Jahre 1866 seiner Bestimmung übergeben wurde; der preußische Ministerpräsident, Otto von Bismarck, war anwesend. Eingeweiht wurde die Synagoge also vor der Gründung des Deutschen Reiches, im Jahre der Schlacht von Königgrätz, in der der alte ,Deutsche Bund' endgültig zugrunde gerichtet wurde.

Theodor Fontane, dessen Bücher auch in diesem Saal sind, empfahl einen Besuch dieses Gotteshauses in der Berliner Oranienburger Straße, ,das an Pracht und Großartigkeit alles weit in den Schatten stellt, was die christlichen Kirchen unserer Hauptstadt aufzuweisen haben'.

Als Nazi-Horden 72 Jahre später - in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 - die Synagoge niederbrennen wollten, rettete sie ein mutiger Polizist, der Reviervorsteher Wilhelm Krützfeld. (Es gab eben doch, auch damals, noch mutige Menschen in Deutschland, wenn auch leider viel zu wenig!)

Im Krieg wurde die Synagoge durch Bomben teilweise zerstört. Im Sommer 1958 wurde sie - abgesehen von der an der Straße gelegenen Bausubstanz - abgerissen. Seit dem 10. November 1988 residiert dort die Stiftung ,Neue Synagoge - Centrum Iudaicum". Die auf der Titelseite sichtbare Hauptkuppel wurde renoviert, die Synagoge selbst aber nur markiert. Und so - halb fertig und unvollkommen - wurde sie ein Sinnbild, ein Symbol des heutigen Judentums in Deutschland.

Das Buch erzählt die Geschichte der Juden in deutschen Landen, aber es zeigt auch deutsche Geschichte. Von Karl dem Großen über das Mittelalter zur Emanzipation und zur Moderne. Es führt in die zwiespältige Kaiserzeit und die nie von allen Deutschen geliebte Weimarer Republik.

Und das Buch berichtet natürlich auch über die Jahre der Verfolgung im letzten Jahrhundert und von der Vergangenheitsbewältigung durch die Nachkommen der Täter und die Nachkommen der Opfer.

Obwohl das Buch die Gesamtgeschichte der Juden in deutschen Ländern über viele Jahrhunderte deutlich macht, nehmen doch die Untaten im 20. Jahrhundert den größten Raum ein. Das gilt auch für meine heutigen Betrachtungen. Was in Deutschland zwischen 1933 und 1945 geschah und geschehen konnte, ist unerklärlich. Was hauptsächlich zwischen dem 1. September 1939 und dem 8. Mai 1945 den Juden in Deutschland und in allen besetzten Teilen Europas angetan wurde, wird von Jahr zu Jahr unfassbarer.

Hannah Arendt soll vorausgesagt haben - ich habe das Zitat allerdings nicht in ihren Büchern gefunden -, dass von den ,social diseases' (Sozialkrankheiten) des vorigen Jahrhunderts Faschismus, Nationalsozialismus und Kommunismus erledigt seien, der Antisemitismus aber überleben werde. Leider muss man ihr recht geben, wenn man sich in der Weltpolitik, wenn man sich sogar in einigen Winkeln der deutschen Politik umsieht.

Elie Wiesel erinnert daran, dass Stalin und Hitler Todfeinde waren; beide aber hassten die Juden.

Man bezeichnet den Mord an sechs Millionen Juden häufig als ,Holocaust'. Das heißt aber auf Deutsch ,Heilige Verbrennung der Opfer'. Aber das war es nicht; kein Opfer, sondern Mord, tausend-, millionenfacher Mord.

Auch das hebräische Wort ,Schoah' ist nicht richtig, das heißt Katastrophe. Aber was damals geschah, war viel mehr als eine Katastrophe. Es war Massenmord, ein Zivilisationsbruch, wie es in der deutschen Geschichte vorher keinen gab, und auch die schlimmste Heimsuchung in der jüdischen Geschichte.

Dass heute junge Deutsche auch nicht erfassen können, wieso ihre Großväter und Großmütter solche Untaten begehen oder dazu schweigen konnten, ist verständlich, ja sogar erfreulich. Von uns erwarten sie Antworten, die aber auch wir nicht geben können.

Auch das Buch, das heute vorgestellt wird, gibt sie nicht. Aber es zeigt zweierlei: die Geschichte der Juden in diesem Land und die nie versiegende Hoffnung.

Man wünscht ihm viele Leser."