BERLIN. Ich suche Leute mit eigener Meinung, die auch zu ihr stehen", erinnert sich Ernst Cramer an das Angebot von Axel Springer. Der Verleger hatte den Journalisten 1958 als stellvertretenden Chefredakteur der Tageszeitung "Die Welt" in sein Haus geholt. Später leitete Cramer das Verlegerbüro, er wurde Herausgeber der "Welt am Sonntag" und schließlich Aufsichtsratsmitglied. Heute feiert der Weltbürger seinen 95. Geburtstag. Aus diesem Anlass hat der Verlag Axel Springer eine Festschrift herausgegeben. Bundespräsident Horst Köhler würdigt Cramer darin als einen Mann, der sich "immer als Deutscher und als Jude" und "Versöhnung als Auftrag" begriffen habe. "Er ist eine Autorität, und er ist ein Vorbild." Springer-Vorstandschef Mathias Döpfner hebt in seinem Vorwort hervor, dass Ernst Cramer vielen Menschen zum Vorbild geworden sei:

In der Tat, ein "Yes-Man" ist Ernst Cramer nicht, ist er nie gewesen. Er beobachtet, hört aufmerksam zu, bedenkt und bildet sich eine Meinung. Zu dieser steht er selbstkritisch, aber entschieden, auch wenn sie unbequem ist. Deswegen hat Axel Springer ihn so geschätzt und zu seinem engsten Mitarbeiter gemacht.

Ernst Cramer war stellvertretender Chefredakteur der "Welt", Herausgeber der "Welt am Sonntag", stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender, die rechte Hand des Verlegers und sein Testamentsvollstrecker. Ernst Cramer ist immer noch - jeden Tag ab zehn Uhr in seinem Büro im neunzehnten Stock! - Vorsitzender der Axel-Springer-Stiftung, vor allem aber Gesprächspartner und Ratgeber für Friede Springer, die Chefredakteure und den Vorstand des Hauses. Und Ernst Cramer ist ein gefragter Autor, der mit Temperament und Klarheit zu historischen und aktuellen Themen schreibt, ganz gleich ob in "Bild", in der "Welt" oder in der "BZ".

Das Gespräch mit ihm ist bei allen, gerade auch bei jungen Leuten, so beliebt, weil er nicht auftritt wie der Lordsiegelbewahrer des Wahren, Schönen, Guten und Alten. Sondern weil er mit großer Neugier und Zukunftswachheit spricht. Manchmal argumentiert er jünger als seine dreißigjährigen Gesprächspartner. Alles Gouvernantenhafte ist ihm fremd, auch und gerade wenn er für die Werte und Traditionen des Hauses Axel Springer eintritt.

Dieses Haus ist seit mehr als vierzig Jahren von Essentials geprägt, die ein freiheitliches und verantwortungsbewusstes Weltbild beschreiben. Sie fordern das unbedingte Eintreten für den freiheitlichen Rechtsstaat Deutschland als Mitglied der westlichen Staatengemeinschaft und die Förderung der Einigungsbemühungen der Völker Europas, das Herbeiführen einer Aussöhnung zwischen Juden und Deutschen sowie die Unterstützung der Lebensrechte des israelischen Volkes, die Unterstützung des transatlantischen Bündnisses und die Solidarität in der freiheitlichen Wertegemeinschaft mit den Vereinigten Staaten von Amerika, die Ablehnung jeglicher Art von politischem Totalitarismus und die Verteidigung der freien sozialen Marktwirtschaft. Ernst Cramer vertritt diese gesellschaftspolitischen Grundüberzeugungen nicht nur besonders glaubwürdig, ein Stück weit verkörpert er sie geradezu.

Ernst Cramers Bruder, sein Vater und seine Mutter wurden von Deutschen ermordet. Er selbst war im Konzentrationslager in Buchenwald und konnte schließlich nach Amerika fliehen. Er wurde Amerikaner und landete als amerikanischer Soldat in der Normandie. Er kämpfte gegen Nazi-Deutschland, als Soldat und später während der Reeducation, weil er ein anderes Deutschland kannte und hier "wieder der Freiheit eine Gasse bauen" wollte, wie er sagt. Er kämpfte und er kam zurück, weil er das Deutschland seiner Kindheit liebte. Vor allem aber: Er kämpfte und er kam zurück, weil er Hitler nicht das letzte Wort überlassen wollte.

Wenn man Ernst Cramers bisheriges Leben betrachtet, sieht man ein jüdisches Leben, ein amerikanisches Leben, ein deutsches Leben. Aber wenn man Ernst Cramer kennt, dann weiß und spürt man, dass er diese drei Leben nicht nebeneinanderher lebt, sondern, und darin liegt vielleicht seine größte Leistung und seine größte Kraft, zusammengeführt hat zu einem neuen Leben, zu seinem Leben. Ernst Cramers Haltung ist vielen zum Vorbild geworden. Sein Weg, sein kämpferischer Rückweg nach Deutschland, ist für viele deutsche Juden ein Leitbild.

Sein Schicksal hat ihn zu einem Weltbürger gemacht, der auf ganz unnachahmliche Weise immer wieder Brücken von Deutschland nach Amerika und Israel gebaut hat. Zu erinnern und dabei - dadurch - zu versöhnen, ist sein Bestreben, seine selbst auferlegte Verpflichtung.

Für dieses Wirken ist der jetzt 95-jährige Journalist vielfach hoch geehrt und ausgezeichnet worden. Wir können dem nur noch unseren Dank hinzufügen. Und wir können ihm zuhören, seine Texte aufmerksam lesen. Einige autobiografisch geprägte sind für dieses Buch ausgewählt worden. Damit nichts davon vergessen wird.