In Berlin wird die große, unabhängige Studie “Feind-Bild Springer“ vorgestellt. Historiker haben in der Stasi-Unterlagen-Behörde recherchiert.
Berlin. Die Gelegenheit war günstig. Am Vormittag des 12. Juli 1977 hatte Marie R. allein Dienst im Hamburger Büro von Axel Springer. Also nahm die Chefsekretärin ihren Bekannten Gerd Dressler mit in den 12. Stock des Verlagshauses in der Hamburger Innenstadt. Sie führte ihn sogar in den persönlichen Arbeitsraum des Verlegers und zeigte ihm die Postmappe, die sie an diesem Tag zu bearbeiten hatte. Dressler bekam noch eine Tasse Kaffee, dann verließ der charmante Mann das Verlegerbüro wieder. So steht es in Akten der Stasi.
Denn Gerd Dressler war kein "normaler" Besucher, sondern ein wichtiger IM des DDR-Geheimdienstes. Marie R., wie die Sekretärin aus persönlichkeitsrechtlichen Gründen hier genannt werden muss, beging mit der Besichtigungstour für ihren Bekannten nicht nur einen schweren Vertrauensbruch gegenüber ihrem Arbeitgeber. Vielmehr war Dresslers "Einladung" der Höhepunkt einer Spionagekarriere, wie sie nur die deutsche Teilung hervorbringen konnte.
Kurz vor dem Mauerbau war Marie R. aus der DDR in den Westen gegangen, und ab 1967 arbeitete sie für den Axel Springer Verlag, bald für den Verleger persönlich. Einige Jahre später traf sie in West-Berlin Gerd Dressler, ihren ehemaligen Vorgesetzten aus einem DDR-Betrieb wieder. Ob ihr schon damals auffiel, dass die Anwesenheit eines DDR-Bürgers in der eingemauerten Teilstadt mindestens verdächtig war, ist unbekannt. Die beiden kamen sich rasch näher, Dressler bat Marie R., ihm für seine "wissenschaftliche Arbeit" das eine oder andere Papier aus dem Verlegerbüro zukommen zu lassen. Anfangs handelte es sich vielleicht tatsächlich um eine "Abschöpfung" - jedenfalls heißt es in einer Stasi-Akte von Dezember 1974, Dressler halte eine Anwerbung der Sekretärin nicht für möglich.
Doch bald wurde mehr aus dem Kontakt. Im März 1977 verdichtete sich der Fluss vertraulicher Informationen aus der Quelle "Grunewald", wie Marie R. in den Stasi-Akten genannt wurde. Dressler brachte immer neue vertrauliche Briefe und andere Unterlagen Axel Springers mit nach Ost-Berlin, meist in Kopie, manchmal aber auch Originaldurchschläge. Und am 6. Juni 1977, fünf Wochen vor der "Besichtigung" des Hamburger Verlegerbüros, reisten der IM und die Sekretärin erstmals konspirativ in die DDR - über die Agentenschleuse im S-Bahnhof Friedrichstraße. Spätestens in diesem Moment muss ihr klar geworden sein, dass sie es nicht mit einem normalen Ost-Berliner Bekannten zu tun hatte, sondern mit einem Stasi-Agenten.
Zudem bekam sie im Laufe der Jahre teure Geschenke, darunter ein Armband und Schmuck im Wert von 1700 Westmark. Sogar gefälschte bundesdeutsche Personalpapiere stellte die MfS für Marie R. aus, auf ihren eigenen Namen - um ihre konspirativen Einreisen in die DDR zu vertuschen. Trotz alledem besteht Marie R. bis heute darauf, ein Opfer des IM Gerd Dressler gewesen zu sein. Ein Verfahren gegen sie wurde 1991 gegen Zahlung von 8000 Mark eingestellt.
Die Geschichte der spitzelnden Sekretärin von Axel Springer ist ein Schwerpunkt in der Studie "Feind-Bild Springer", die heute Abend in Berlin der Öffentlichkeit vorgestellt wird. Die Historiker Jochen Staadt, Stefan Wolle und Tobias Voigt haben mit Unterstützung des Verlages, aber inhaltlich völlig unabhängig die erhaltenen Archivalien vor allem in der Stasi-Unterlagen-Behörde, aber auch im Bundesarchiv und im Unternehmensarchiv Axel Springer ausgewertet und die erste umfassende Untersuchung der DDR-Attacken auf den größten westdeutschen Zeitungsverlag geschrieben. Auf Grundlage ihrer Ergebnisse drehte Tilmann Jens im Auftrag des WDR die Dokumentation "Bespitzelt Springer!", die am Mittwochabend im Ersten ausgestrahlt wird.
"Axel Springer, sein Unternehmen und seine Mitarbeiter wurden von der DDR bekämpft und von der Stasi bespitzelt", sagte Mathias Döpfner, Vorstandsvorsitzender Axel Springer. Der Verlag habe sich nicht mit einem Unrechtsstaat arrangieren wollen. Springer habe sich nicht davon abbringen lassen, Freiheit für alle Deutschen zu fordern. Die Studie belege, wie die DDR-Staatssicherheit die öffentliche Meinung in Ost und West beeinflusst habe.
Der Einsatz Axel Springers und seiner Zeitungen für Freiheit, Rechtsstaat und die Deutsche Einheit war den DDR-Mächtigen schon seit den späten 50er-Jahren ein Dorn im Auge. Mehr als 30 Jahre lang, das dokumentieren die Experten vom Forschungsverbund SED-Staat der Freien Universität Berlin, bekämpften SED und Stasi den Verlag. Mit allerdings abseits des Falls Marie R. bemerkenswert geringem Erfolg versuchte das MfS, Spitzel in dem Unternehmen zu etablieren. Großes Gewicht legte die Stasi auf die Kontrolle "feindlich gesinnter" Journalisten beispielsweise der "Welt". Der Politikredakteur Dieter Dose und der Leiter des West-Berliner Büros Hans-Rüdiger Karutz wurden in eigenen "Operativen Personenkontrollen" bespitzelt. Abschrecken ließen sich die beiden davon jedoch nicht.
Anders sieht es mit der Diffamierung des Verlages aus. Seit Ende der 50er-Jahre schürten MfS und SED offen und konspirativ fundamentale Kritik in der westdeutschen Öffentlichkeit. Die Propagandaattacken aus Ost-Berlin und vom westlichen "Sozialistischen Deutschen Studentenbund" waren inhaltlich oft kaum zu unterscheiden. Den eindeutigen Beweis, dass die Kampagne "Enteignet Springer!" tatsächlich gesteuert war, können die drei Autoren auch nicht vorweisen. Wesentlich befeuert und unterstützt wurden diese bis heute fortwirkenden Angriffe von der DDR jedoch auf jeden Fall.
Staadt, Wille und Voigt bemühen sich ausdrücklich um eine sachliche Darstellung, und mit ganz wenigen Ausnahmen etwa zu den Vorgängen im Juni 1967 gelingt ihnen das. Ihr Buch beleuchtet eine wichtige Facette der deutsch-deutschen Zeitgeschichte. Nur wer die aggressive Tätigkeit der DDR gegen Demokratie und Rechtsstaat im Blick hat, kann die Entwicklung der Bundesrepublik bis 1990 verstehen und angemessen beurteilen.
"Bespitzelt Springer!" läuft am Mittwoch, 23.15 Uhr, in der ARD.