Mit 700 geliehenen Dollar fing es an. Das Ziel: mit schwarzer Musik den weißen Markt zu knacken. Und das ist Berry Gordy gelungen. Mit Motown. Das Label feiert im Monat des Amtsantritts von Barack Obama seinen 50. Einige Experten sagen sogar: Ohne Motown hätte es keinen farbigen Präsidenten gegeben.
Hamburg. Barack Obama konnte nur amerikanischer Präsident werden, weil er seine Hautfarbe nicht zum Thema machte. Es ging in seinem Wahlkampf nicht um Schwarz und Weiß, sondern um einen Aufbruch und Neuanfang aller Amerikaner - unabhängig von ihrer ethnischen oder religiösen Herkunft. Vor genau 50 Jahren hatte Berry Gordy ähnliche Überlegungen im Kopf, als er seine erste Plattenfirma Tamla Records mit dem bescheidenen - und geliehenen - Startkapital von 700 Dollar gründete. Den ehemaligen afroamerikanischen Boxer und Gelegenheitszuhälter interessierte vor allem Geld, als er seine ersten Singles veröffentlichte. "Money (That's What I Want)", von Barrett Strong gesungen und der erste Hit von Gordys Plattenlabel, brachte sein Credo auf den Punkt. Um aber Geld scheffeln zu können, musste Gordy den weißen Markt knacken - kein leichtes Unterfangen in einer Zeit, in der in weiten Teilen der USA noch strikte Rassentrennung herrschte. Doch Gordy schaffte mit seinem Motown-Label das kaum für möglich Gehaltene. In der Blütezeit seiner Karriere galt Gordy mit einem Vermögen von 400 Millionen Dollar als der reichste schwarze Geschäftsmann in den USA. 70 Prozent seiner Plattenkäufer waren Weiße.
Am 12. Januar 1959 gründete Gordy Tamla Records, woraus später Motown Records wurde. Der Name leitet sich von Motor Town ab, eine Bezeichnung für Gordys Heimatstadt Detroit, das Zentrum der amerikanischen Automobilindustrie. In einem zweistöckigen Haus am West Grand Boulevard, an das Gordy ein Schild mit der Aufschrift "Hitsville USA" hängte, nahmen Musiker wie Stevie Wonder, Marvin Gaye, die Supremes, die Four Tops, die Temptations, Smokey Robinson und Martha Reeves & The Vandellas ihre Songs auf. Zwischen 1961 und 1971 hatte Motown 110 Top-Ten-Hits, 28 Nummern erreichten die Nummer eins. Drei Viertel aller Songs landeten in den Charts und machten Motown zum erfolgreichsten Label aller Zeiten. Bei anderen Plattenfirmen kam auf vier Veröffentlichungen ein Hit.
Berry Gordy hat den Motown-Sound einmal als eine Mischung aus "Ratten, Kakerlaken, Krawall, Mut und Liebe" beschrieben, doch diese Definition führt in die Irre. Motown steht für glatt polierte Nummern mit einem swingenden Grundbeat, Gospeleinflüssen und sinfonischen Streicherarrangements. Kein Song ist länger als drei Minuten, er darf nicht zu schnell und nicht zu langsam sein, und er muss einen hohen Wiedererkennungswert haben. Das Gerüst ist vertraut, nur die Gesangsstimmen sind unverwechselbar und einzigartig. Eine andere Definition aus dem Mund des Labelbosses trifft das Motown-Typische besser: "Es ist ein Happy Sound, ein Happy Beat mit einem schönen starken Bass drunter. Die Tamburine geben ihm einen Hauch von Gospel."
Motown-Künstler präsentierten sich bei Auftritten immer elegant. Gordy arbeitete mit den adretten Outfits und dem wohlerzogenen Benehmen gegen gängige, rassistische Klischees gegenüber Afroamerikanern an. Seine Künstler wurden in einer "charm school" gedrillt. Maxine Powell, die Besitzerin einer Model-Schule, brachte den jungen Damen und Herren, die oft aus ärmlichen Verhältnissen stammten, bei, wie sie zu gehen, zu sitzen und zu sprechen hatten: "Wir haben sie für Auftritte im Buckingham-Palast und im Weißen Haus fit gemacht", sagte sie.
Mit wenigen Ausnahmen wie Marvin Gayes Album "What's Going On" kamen in den Texten keine politischen oder gesellschaftskritischen Inhalte vor. Es ging um Liebe, Tanzen, Sich-Wohlfühlen. Der Auffassung des radikalen Kritikers Amiri Baraka, dass "Dancing In The Streets" 1967 eine Metapher für den Aufstand in den Gettos war, widerspricht Martha Reeves, die den Song zum Hit machte: "Wir wollten mit dem Song die Leute auffordern, in den Straßen zu tanzen und fröhlich zu sein, statt Aufruhr zu machen." Dennoch taten die Motown-Künstler viel für die Entwicklung eines neuen schwarzen Selbstbewusstseins, dessen radikale Ausprägung sich Ende der 60er-Jahre in der Black-Panther-Bewegung zeigte. Bei ihren Tourneen in den Süden der USA schafften die Supremes und andere es, dass Weiße und Schwarze zum ersten Mal gemeinsam ein Konzert besuchten. Was nicht immer ganz ungefährlich war. Nach einer Revue in Birmingham/Alabama mussten die Künstler Hals über Kopf in ihren Bus springen und die Stadt fluchtartig verlassen, weil weiße Rassisten - mit Gewehren in die Luft schießend - sich dem Auftrittsort näherten.
Mit seinen Geschäftsideen wollte Berry Gordy der weißen Majorität auch zeigen, dass ein Schwarzer genauso clever und geschäftstüchtig sein kann wie sie selber. Ein weiteres Credo für seinen Erfolg lautete: Qualität. Jeden Freitag war in Hitsville Qualitätskontrolle durch den allmächtigen Chef. Er entschied, welcher Song gut genug war, um als Single veröffentlicht zu werden. Auswahl hatte er immer genug, denn in Hitsville wurde 24 Stunden am Tag produziert - wie am Fließband, genauso wie in den großen Autofabriken.
Dass diese Lieder diesen hohen Wiedererkennungswert hatten, lag an den Musikern, die tagaus, tagein im "Snakepit", so wurde das Studio A in Hitsville genannt, spielten. James Jamerson (Bass), Robert White (Gitarre), Benny Benjamin (Schlagzeug), Earl Van Dyke (Keyboards), Jack Ashford (Perkussion) und ein Haufen anderer versierter Instrumentalisten schufen diese gleichbleibende Qualität. Doch die Namen der sogenannten Funk Brothers tauchten erst 1971 auf einer Plattenhülle auf, als Marvin Gaye sein umwerfendes Album "What's Going On" veröffentlichte.
Von gleich großer Bedeutung waren auch die Songschreiber, die zur Motown-Familie gehörten: das Trio Holland-Dozier-Holland, Norman Whitfield und William Stevenson waren die Wichtigsten. Erste Risse im Motown-Gefüge zeigten sich als Holland-Dozier-Holland, die unter anderem Songs wie "Can't Hurry Love", "Stop! In The Name Of Love", "You Keep Me Hanging On" für die Supremes geschrieben hatten, 1967 das Label verließen, weil sie von Gordy höhere Tantiemen wollten.
Obwohl Gordy auch später noch bedeutende Künstler wie die Commodores, Rick James und Lionel Richie entdeckte, ging es mit dem Label bergab. Gordy zog 1972 mit seiner Firma von Detroit nach Los Angeles, weil er seine damalige Geliebte Diana Ross mit aller Macht zum Hollywood-Star machen wollte. 1988 schließlich musste er Motown für 61 Millionen Dollar an MCA verkaufen. Später bekam er von EMI in mehreren Schritten nochmals gut 300 Millionen Dollar.
Seinen Platz in der Geschichte wichtiger Afro-Amerikaner wird dem heute 79 Jahre alten Gordy indes niemand streitig machen. Auch er hat einen wichtigen Teil dazu beigetragen, dass Obama ein halbes Jahrhundert später der erste afroamerikanische Präsident der USA wird. Barack Obama ist übrigens ein großer Fan von Stevie Wonder. Und der ist der letzte verbliebene Künstler der klassischen Motown-Heroen, der seine Platten immer noch unter diesem Label herausbringt.