Die Aufzeichnungen von 1990 zeigen Grass als politischen Mahner, Familienmenschen und Literaten: ein Zeitzeugnis, kein Kunstwerk.

Hamburg. Um es gleich vorwegzunehmen: Günter Grass' Tagebuch aus dem Jahr 1990 birgt keinerlei Skandalpotenzial. Künstlerisch ist es wenig wertvoll, aber es zeigt uns den heute 81 Jahre alten Nobelpreisträger als scharfsinnigen politischen Analytiker mit beinahe prophetischen Zügen.

"Ich möchte einigen Sonntagsrednern in die Suppe spucken", hatte Grass vor einer Woche in einem Interview mit der Wochenzeitung "Die Zeit" beinahe trotzig Auskunft über seine Beweggründe für dieses Buch gegeben. Die vorliegenden Aufzeichnungen aus dem Wendejahr 1990 nehmen viele politisch-gesellschaftliche Probleme des Vereinigungsprozesses vorweg: den Rechtsradikalismus, das Go-West-Fieber, das zur Entvölkerung ganzer Landstriche führte, sowie den völligen Zusammenbruch der Wirtschaft und die damit einhergehende Arbeitslosigkeit.

Das Jahr 1990 beginnt mit einem Aufenthalt im Ferienhaus im Süden Portugals. Schon am 1. Januar notiert Grass nach Begegnungen mit einigen Kröten den Begriff "Unkenrufe" - was nicht nur der Titel seines 1992 erschienenen Prosabandes ist, über dessen künstlerischen Entstehungsprozess in diesem Band einige Details verraten werden, sondern vielmehr auch eine selbstironische Beschreibung seiner politischen Äußerungen.

Grass sieht sich als einsamer Schwimmer gegen die reißenden Fluten des Vereinigungsstroms. Er betätigt sich bei öffentlichen Veranstaltungen als mahnender Bremser, der im hohen Vereinigungstempo die größte Gefahr sieht. Die allerorten spürbare Euphorie bereitet ihm Sorgen.

Viele seiner langjährigen politischen Weggefährten werden ihm suspekt. "Mich beunruhigt, wie er der Einheit das Wort redet", urteilt der Schriftsteller über Altkanzler Willy Brandt, für den er 20 Jahre zuvor aktiven Wahlkampf betrieben hat, und auch die Entwicklung der Enkel-Generation um Oskar Lafontaine und Björn Engholm verfolgt der Autor eher skeptisch. In die Skepsis mischen sich Resignation und leicht melancholische Gedanken über das eigene Altern. "Bewusstwerden der Vergeblichkeit meiner politischen Anstrengungen" heißt es am 7. April. Im Juni - und da wird es dann arg pathetisch - befällt Grass gar das bekannte Heine-Gefühl ("Denk ich an Deutschland in der Nacht, so bin ich um den Schlaf gebracht."). Er durchwacht die Nächte, grübelnd über die Zukunft seines Vaterlandes.

Partei ergreifen, Sympathie bekunden, Leidenschaft ausleben und polarisieren: Eigenschaften, die Grass auch im literarischen Alltag immer wieder zeigte. Er wetterte im Februar lautstark gegen Marcel Reich-Ranicki, der im "Literarischen Quartett" Christa Wolf und Stephan Hermlin diffamierte, und im Juni ergriff er nach Erscheinen des schmalen Bändchens "Was bleibt" und dem nachfolgenden Feuilleton-Gezänk noch einmal vehement Partei für Christa Wolf. Auf liebenswert-dickköpfige Weise kommt Günter Grass als eine Art Universal-Verteidiger der "alten" DDR, als wortmächtiges Sprachrohr des Ostens daher.

Zwischendurch erleben wir ihn im Kreis seiner großen Familie, die für ihn sowohl Zufluchtsort als auch Inspirationsquelle ist. Wie schon im letzten autobiografischen Band "Die Box" (2008) werden allerlei verwegen anmutende Küchen-Geheimnisse gelüftet, ehe sich der dokumentierte Kreis am 1. Februar 1991 wieder in Portugal schließt.

Im Gegensatz zum leicht selbstverliebten Tenor des Bandes "Die Box" lesen sich diese bisweilen stichwortartigen Tagebuch-Aufzeichnungen absolut nüchtern und kühl-dokumentarisch. "Unterwegs von Deutschland nach Deutschland" ist kein literarisches Kunstwerk, es ist aber sehr wohl ein authentisches Zeitzeugnis des prophetischen Mahners Günter Grass, dessen "Unkenrufe" einst ungehört blieben.


Günter Grass: Unterwegs von Deutschland nach Deutschland - Tagebuch 1990 Steidl-Verlag, 256 Seiten, 20 Euro