Gestern wurde das Documenta-Gelände offiziell vorgestellt. Ein Rundgang über eine Weltkunst-Schau, die ohne These auskommt und sich lohnt.
Kassel. Der Vorhang ist auf, ganz verschlossen war er nie. Jede Documenta hatte ihre eigene Art der Geheimnisbewirtschaftung, jede Documenta ihre geduldeten Spione. Jetzt darf man sich davon überzeugen, dass die Kasseler Traditionsbühne für zeitgenössische Kunst unter der Verschweigetaktik keinen Schaden genommen hat, mit der die Prinzipalin dieser 13. Documenta, Carolyn Christov-Barkagiev, an ihr Planungswerk gegangen ist. Wo immer die Dame in Begleitung ihres Hündleins auftauchte, ließ sie ein ratloses Auditorium zurück. Es ist ein Wagnis, wie diese Documenta so gar keine These kennt, die sie bebildern wollte. Was ja nicht heißt, dass sie keine eigene Sicht hätte.
Wer den Rundgang in der Karlsaue beginnt, was sehr zu empfehlen ist, bekommt ein sicheres Gespür für den Geist der Ausstellung. Die kilometerlange Wanderung vorbei an Baumarkthäuschen mit Kunstfüllung, an Hügelbeeten, Heilkräuterpflanzungen, Zierbaumaufstellungen, einer Schrottunterkunft und einer arabischen Garküche, an einem Hundepark und an tief fliegenden Silberreihern ist wie eine Fantasiereise durch eine Welt eigener Ordnung. Dezent fügen sich die fremden Dinge in den Park. Nirgendwo die üblichen Achtung-Kunst-Signale. Der eigentliche Stoff dieser Documenta ist Künstler-Denke. Jene intuitive Intelligenz, die nicht am Selbstausdruck interessiert ist. Man wird sie in dem ganzen Aufgebot nicht finden, die umjubelten Darsteller und Schausteller, die Zeichensetzer und Rechthaber, die hoch gehandelten Stars der globalisierten Kunstunterhaltung. Man vermisst sie auch an keiner Stelle.
Diese Documenta hat alles, was zur Großausstellung gehört, sie kennt Behauptung und Ratlosigkeit, will bedeutend sein und banal, erzeugt Spannung und Langeweile, hat Intensität und Brisanz, überrascht und verstört - auch ohne Verpflichtung der Leistungsträger, die einem von Messe zu Messe vorbuchstabiert werden. Von einer nicht geringen Anzahl der Teilnehmer ist an den Börsenplätzen der Kunst kaum etwas zu sehen gewesen.
Noch sind es nur Streiflichter, die man an den verschiedenen Documenta-Orten gesammelt hat. Die eindringlich unspektakulären Malereien der Libanesin Etel Adnan etwa. Oder das Video-Triptychon, in dem Clemens von Wedemeyer an das Kloster Breitenau bei Kassel erinnert, einst Erziehungsanstalt, später Nazi-KZ, seit den Siebzigerjahren psychiatrische Anstalt, ein Ort von kargem Charme. Dazu passt die Aussichtsplattform in der zentralen Achse der Karlsaue, die jählings alle Gemütlichkeit verliert, wenn man weiß, dass Sam Durant bei seinen hölzernen Bauteilen Maß an den Galgen genommen hat, wie sie bei der Ausübung des staatlichen Hinrichtungsmonopols in aller Welt im Gebrauch sind.
Michael Rakowitz lässt afghanische Studenten in Bamiyan, wo die Taliban die Buddha-Statuen gesprengt haben, Bücher in Stein hauen, die einst in der Bibliothek des Fridericianums standen. Die Inderin Nalini Malani tarnt ihre Auseinandersetzung mit dem Gewaltkern der hinduistischen Religion in wie Ornamente dahinfließenden Schattenspielen. Anna Boghiguian, die 65-jährige Ägypterin, ist als ungemein vitale Zeichnerin zu entdecken. Und vor den riesenhaften Prospekten der in Äthiopien geborenen Julie Mehretu verliert man sich im Gespinst der Linien.
Man wird viel Zeit mitbringen müssen, um mehr und genauer zu sehen, wie William Kentridge mit seinen wunderbar umständlich bewegten Bildern dem Vergehen der Zeit wehrt, wie Guillermo Faivovich und Nicolás Goldberg ein uraltes Meteoritenfeld in Argentinien untersuchen, wie die Koreanerin Haegue Yang ihren bunten Alltagsprodukten den Alltag austreibt.
Aber auch nach dürftiger Umschau steht fest: Diese Documenta steckt voller Überraschungen. Sie lohnt den Besuch, lohnt die Beschäftigung mit ihr. Auf hoch respektable Weise setzt sie die Geschichte des stolzen Ausstellungsformats fort. Und so viel ist schon nach den ersten Documenta-Stunden deutlich: Carolyn Christov-Barkargiev forscht mit ansteckender Neugier nach Strategien und Netzwerken, die im Schatten der Schlagzeilenkunst entstehen. Eine Documenta, die den Marktstandard abgebildet hätte, wäre schwer erträglich gewesen.
Wie keine zuvor setzt diese Documenta ohne aufgeschäumte Emphase auf das künstlerische Vorwissen, das keine Wissenschaft widerlegt. Es sind Weltengänger, die sie ausfindig macht und zusammenbringt, Reisende zwischen den Kontinenten und Kulturen.
Die Documenta 13 läuft vom 9. Juni bis zum 16. September in Kassel. Wer sie von Hamburg aus besuchen möchte, kann für die Bahnfahrt das Kultur-Ticket-Spezial nutzen, das 39 Euro (in der 2. Klasse) kostet und nur in Verbindung mit einer Eintrittskarte zur Ausstellung gültig ist.