Schonunglos und berührend zeigt der Regisseur die Alltäglichkeit des Sterbens - im einzigen deutschen Beitrag, der offiziell im Cannes läuft.

Cannes. Dem Gespräch ist seine Ratlosigkeit anzumerken. Als der Arzt die Diagnose verkündet, herrscht erst einmal Schweigen. Ein inoperabler Gehirntumor. Nur noch wenige Monate oder gar Wochen zu leben. Man sieht nur den Gesichtern von Frank und seiner Frau Simone an, was sie wirklich fühlen. Ein Großteil des Gesprächs besteht aus Schweigen und holprigen Sätzen. Man spürt förmlich, wie unvorbereitet diese einem Todesurteil gleichkommende Diagnose einschlägt, und man merkt, dass auch der Arzt, der diese Diagnose wahrscheinlich mehrmals pro Woche verkünden muss, immer noch hilflos dabei ist.

Mit „Halt auf freier Strecke“ hat Andreas Dresen einen schonungslosen und doch berührenden Film über das Sterben gedreht. Es ist der einzige deutsche Film im offiziellen Programm von Cannes, er lief am Sonntag in der Reihe „Un Certain Regard“, wie auch schon Dresens vorletzter Film, „Wolke 9“ (2008). In den Wettbewerb selbst hat es kein deutscher Beitrag geschafft.

Es gibt im deutschen Kino keinen anderen Regisseur, der so authentisch und lebensnah Alltag beschreiben kann wie Dresen. „Halt auf freier Strecke“ folgt Frank in den letzten Monaten seines Lebens, zeigt seinen Versuch, am Anfang noch so etwas wie Normalität zu wahren, obwohl er immer vergesslicher wird und schon einmal ins Zimmer seiner Tochter pinkelt. Doch je mehr die unheilbare Krankheit fortschreitet, desto mehr verändert sich auch Frank, wird gebrechlich, jähzornig, die Haare fallen ihm aus, wegen der Chemotherapie. Als seine Mobilität sich mehr und mehr einschränkt, entschließt sich Simone, ihn selbst und zuhause zu pflegen, mit einer Ärztin, die sich auf unheilbare Krebsfälle spezialisiert hat.

„Halt auf freier Strecke“ beschreibt das Sterben im Mikrokosmos einer Familie, zeigt, wie sich das Leben und seine Abläufe verändert, zeigt, welche immense Belastung ein solcher Krankheitsfall bedeutet, zeigt aber auch, wie das Leben trotzdem weitergeht, weitergehen muss. Die Haltung dieses Films bleibt immer nüchtern, sie weidet sich nie am Leiden, sie beutet auch nie unser Mitleid aus. Dresen hat diesen Film mit seinen hervorragenden Darstellern, allen voran Milan Peschel und Steffi Kühnert, weitgehend improvisiert gedreht, wie auch seinen Film „Halbe Treppe“ (2009); die Ärzte und das Pflegepersonal sind Laien. Und das ist diesem Film sehr gut bekommen.

Auch Dresens „Wolke 9“ widmete sich einem Tabu, dem Thema Liebe und Sex im Alter. Doch „Halt auf freier Strecke“ ist runder, nicht so auf den Tabubruch angelegt und in seiner Alltäglichkeit auch ergreifender. Und er hat, man mag es kaum glauben, Humor. Einmal sagt sein Sohn zu Frank: „Wenn Du stirbst, darf ich dann Dein iPhone haben?“ Und als die ganze Wohnung beschriftet wird, weil Frank alles sehr schnell vergisst, klebt auch auf seiner Stirn ein Zettel. Darauf steht: „Papa“.

Zum Wettbewerb jedenfalls war „Halt auf freier Strecke“ und seine Erdung im Hier und Jetzt ein guter Kontrast. Der französische Beitrag „The Artist“ von Michel Hazanavicius kam als eine charmante Hommage an den Stummfilm daher, gedreht in Schwarzweiß und ohne Dialoge. Erzählt wird der Niedergang eines Stars, der sich weigert, beim Tonfilm mitzumachen und dessen Karriere dadurch ein jähes Ende nimmt. Hanzanavicius hat mit seinem Hauptdarsteller Jean Dujardin schon zwei in Frankreich sehr populäre Parodien mit dem Agenten OSS 117 gedreht, und auch bei „The Artist“ funktioniert dieses Gespann: Gerade am Anfang ist dieser Film furios, aber er bleibt doch auch – belanglos.

Und mit „L Apollonide“ versuchte sich Bertrand Bonello im zweiten französischen Wettbewerbsbeitrag diesen Tages an der Sektion eines Pariser Bordells um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Auch wenn er minutiös den Tagesablauf der mehr oder weniger eingesperrten Prostituierten beschreibt, ihre Gefahren durch Gewalt oder Krankeiten und ihre Ausbeutung schildert: Nüchternheit ist nicht das Anliegen dieses Films, eher schon ein Ausstellen der Dekadenz der bourgeoisen Kunden. Wie „The Artist“ ist „L Apollonide“ eine zwiespältige Annäherung an eine untergegangene Welt.