Seit einem knappen Jahr ist Joachim Lux Intendant am Thalia-Theater. Der Erfolg hat sich bereits eingestellt, die meisten Inszenierungen überzeugten.
Hamburg. Mit Trommelfell-zerrüttendem Gesang kreischte sich Annette Paulmann vor 20 Jahren in die Herzen der Thalia-Zuschauer. Sie war der weibliche Star in Bob Wilsons "Black Rider"-Inszenierung, dem größten Erfolg, den das Theater je hatte. Am vergangenen Wochenende stand sie wieder auf der Bühne des Thalia-Theaters, in dem Gastspiel "Kleiner Mann - was nun?" von den Münchner Kammerspielen. Zehn Jahre ist es her, seit Paulmann das Haus am Alstertor verlassen hat. Die Zuschauer lieben sie wie eh und je. Thalia-Zuschauer sind treu. Sie vergessen so was nicht. Für jeden Neuen ist das ein Pfund.
Im August 2009 ist Joachim Lux Intendant des Thalia-Theaters geworden. Keine leichte Aufgabe, denn sein Vorgänger Ulrich Khuon hatte in den neun Jahren, die er das Thalia leitete, für sein Haus zweimal die Auszeichnung "Theater des Jahres" bekommen. Und auch dessen Vorgänger, Jürgen Flimm, hatte bereits Erfolg auf Erfolg eingeheimst, darunter den, nicht nur künstlerisch sondern auch wirtschaftlich an der Spitze aller deutschen Theater zu stehen. Zumindest unter der Bürde des finanziellen Erfolges leidet das Theater bis heute: Es hat das höchste Einnahmesoll in Deutschland. Aber statt zu jammern, erwirtschaftet es mehr als jede andere Bühne.
Ist aller Anfang hier also schwer? Anscheinend nicht, wenn man mit Intendant Joachim Lux, dem kaufmännischen Geschäftsführer Ludwig von Otting oder Schauspieler Hans Kremer spricht, die unabhängig voneinander von einer erfolgreichen ersten Saison erzählen. 24 Premieren und 150 000 Besucher bis Ende April sind eine gute Bilanz. Die meisten Inszenierungen konnten überzeugen. Das Publikum hat neue Schauspielerinnen und Schauspieler für sich entdeckt und auch bereits Publikumslieblinge.
Mit "Woyzeck" gibt es sogar schon einen Publikumsrenner im Programm. "Das ist ein Glücksfall", sagt Joachim Lux. "Regisseurin Jette Steckel ist erst 27 und hat bisher nur in kleinen Räumen inszeniert. Wie sie das mit ihrer ersten Arbeit im großen Haus hinbekommen hat, ist herausragend."
Intendantenwechsel sind Zeitenwenden. Das Haus bleibt stehen, neue Menschen kommen. Sie müssen mit dem Geist des Hauses leben. Im Falle Thalia heißen diese Schlagwörter "Ensemble" und "Unterhaltung". Das Thalia-Theater überzeugt seit Jahrzehnten durch herausragende Ensembles. Beim Thema Unterhaltung muss man nicht ganz bis in die Gründungszeit des Hauses gehen, 1843, als es diesem Theater verboten war, ernste Stücke zu spielen. Zum Schutz des Stadttheaters, das auf Ernstes abonniert war. Das Thalia zeigt schon lange viel mehr als Komödien. Aber Theatergeister leben nicht nur im Aberglauben der Schauspieler weiter, wie etwa, dass "toi, toi, toi"-Rufe vor Premieren Glück bringen (eine Verballhornung des Fluchs "Teufel, Teufel, Teufel", auf den man korrekt mit "Hals- und Beinbruch" - vom Jiddischen hasloche un' broche, Glück und Segen - antwortet). Theatergeister sind hartnäckig und schließlich führt das Haus den Namen der griechischen Muse für Komödiendichtung, Thalia.
Seit Intendant Boy Gobert in den 70er-Jahren große Kolleginnen und Kollegen ans Haus gebunden hat und begabte Vertreter des 68er-Regietheaters engagierte, wurde das Thalia zum Gegengewicht und Rivalen des Schauspielhauses. Mit Jürgen Flimm, der von 1985 bis 2000 das Theater leitete, kamen viele Schauspieler ans Thalia, die heute zu den bedeutendsten Gesichtern des deutschen Theaters und Fernsehens gehören, etwa Jan Josef Liefers, Stefan Kurt, Michael Maertens, Christoph Waltz, Dominique Horwitz, Lena Stolze oder Annette Paulmann.
Als "Schauspieler-Theater" hat sich auch das neue Ensemble bereits präsentiert. Die Zuschauer erkennen das Potenzial von Schauspielern wie Mirco Kreibich, Jörg Pohl, Bibiana Beglau, Bruno Cathomas, Karin Neuhäuser oder Gabriela Maria Schmeide, um nur einige zu nennen. "Meine erste Überraschung am Thalia war, wie leistungsfähig dieses Theater ist", sagt Joachim Lux. "Wir haben 50 Prozent mehr an Produktionen herausgebracht, als es üblich ist. Das Theater hat das mit viel Freude gemeinsam gestemmt. Es ist eben doch ein Familienbetrieb."
"Familie" heißt das andere Schlagwort, das im Thalia herumgeistert. Stolz ist Lux darauf, dass nicht nur in Theaterkreisen, "das Ensemble in seiner Qualität und Vielfalt wahrgenommen wird". Die zweite Überraschung ist der "Andersen"-Abend. "Unternehmerisch war das Harakiri", sagt Lux. "Es gab ja gar nichts. Stefan Pucher hat aus dem Projekt über den Dichter etwas sehr Schönes erschaffen. Darüber freue ich mich."
Dass der Neubeginn auf Wohlwollen stieß, hat Lux auch festgestellt. "Wir sind schon in der Stadt angekommen", sagt er. Wer hier viel und "anständig" arbeitet, wird anerkannt. "Meine wichtigste Aufgabe war, gute Regisseure zu finden, die miteinander etwas anfangen können, die Kraft des Ensembletheaters zu erhalten und eine innere geistige Ausrichtung zu haben. Ich möchte mich nicht atemlos von Punkt zu Punkt hangeln. Persönlich", so ergänzt der Intendant, "merke ich, was das für ein Knochenjob ist." Ihm hilft, dass er angstfrei ist. Und geradeaus.
Gibt es unschöne Erfahrungen? "Ja", weiß Lux. "Aus Wien kenne ich keine Geldprobleme. Hier bin ich als Erbsenzähler unterwegs. Der Stellenwert von Kultur ist hier nicht selbstverständlich. In Wien ist man erst mal neugierig. In Hamburg rennt man erst mal gegen Widerstände."
Für Geschäftsführer Ludwig von Otting ist das kein Thema. Schließlich ist der Jurist schon mehr als ein Vierteljahrhundert am Thalia und kann vergleichen, wie die ersten Spielzeiten der neuen Intendanten verliefen. "Gut läuft es nur, wenn das Künstlerische stimmt und das Publikum kommt", sagt er. "Flimm war da wenig kompromissbereit. Sein Theater setzte sehr auf Persönlichkeiten. Bei Ulrich Khuon kam viel, auch radikal interpretierte Gegenwartsliteratur hinzu. Es hat eine Weile gedauert, das beim Publikum zu etablieren. Bei Joachim Lux haben wir eine große Offenheit gegenüber neuen Stoffen und traditioneller Literatur. Im Ansatz ist das Theater wieder reicher geworden." Den Führungsstil des neuen Intendanten bezeichnet er als "gradlinig und angenehm offen". Alle drei seiner Intendanten hätten "den Ensemblegedanken sehr schnell als zentral für dieses Theater erkannt", sagt er.
Auch Schauspieler Hans Kremer ist ein "alter" Thalianer. Flimm hat ihn 1985 ans Thalia geholt, wo er "Peer Gynt" als jungen Draufgänger spielte. Auch die erste Saison von Ulrich Khuon hat er mitgemacht, bevor er an die Münchner Kammerspiele wechselte.
Mit "Peer Gynt" hat auch Joachim Lux eröffnet, in der Titelrolle war Jens Harzer zu sehen. Der sensible Mittdreißiger ist eines der großen Talente seiner Generation. Eine Rolle, in der er sich entsprechend präsentieren kann, war Peer Gynt leider nicht, so die Kritik. Aber, so weiß Kollege Kremer, "jedes neue Ensemble muss sich erst zurechtruckeln, bevor sich das Publikum mit den Schauspielern identifiziert. Ich finde, wir sind hier erstaunlich weit. In München hat das drei Jahre gedauert. Vertrauen und Spielfreude sind hier längst da." Neue Formen wünscht er sich gelegentlich. "Neue Formen", so weiß Joachim Lux, "entstehen aber nicht, indem man sie verordnet, sondern indem Künstler sie für sich ausprobieren." Auf geht's.