Hella von Sinnen hat ein ganz besonderes Verhältnis zu den Geschichten des dänischen Dichters. Im Abendblatt erklärt sie, warum.

Hamburg. Als Kind hat sie geheult, wenn sie das "Mädchen mit den Schwefelhölzern" las. Heute findet Hella von Sinnen Andersens Märchen spannend, romantisch und sehr poetisch. Die Entertainerin und Schauspielerin hat eine CD mit Lieblingsmärchen aufgenommen und liest am 5. April im Hamburger Literaturhaus. Im Gespräch mit dem Abendblatt erklärt sie, warum sie Hans Christian Andersens Elfen und Feen so liebt - und warum die Geschichten des dänischen Märchenerzählers, der am 2. April 1805 geboren wurde, verraten, daß er schwul war.

ABENDBLATT: Wann haben Sie Andersen für sich wiederentdeckt?

VON SINNEN: Mein Andersen-Jahr begann vor zwei Jahren. Das erste Märchen, das ich gelesen habe, war "Die Prinzessin auf der Erbse". Den Schluß fand ich sehr originell: "Die Erbse kam in das Museum, wo sie heute noch zu sehen ist, wenn niemand sie gestohlen hat." Ich dachte: Was ist das denn? Ich kenne von Märchen sonst nur den Satz: Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute. Aber nicht: Und wenn sie nicht gestohlen wurde, dann liegt sie noch heute da . . . Ich fand, das war irgendwie so ein homosexueller Humor.

ABENDBLATT: Inwiefern?

VON SINNEN: Ich befinde mich jetzt seit 30 Jahren in homosexuellen Kreisen und kann sagen, es gibt einen speziellen homosexuellen Humor, der sich durch sehr vieles auszeichnet. Der ist spontan, grotesk, wild, lustig, der ist auch ein bißchen anzüglich. Und wie Andersen in dem Märchen "Die Stopfnadel" diese eitle Nadel beschreibt, die schwarz wird und dann zum Schluß noch sagt, schwarz macht schlank - da habe ich gedacht, also, wenn das keine Tunte ist, dann weiß ich's nicht. Und dann habe ich in einer Biographie über ihn gelesen, daß er homosexuell war und für Männer geschwärmt hat; auch für Frauen, aber platonisch. Andersen ist sein Leben lang eine Jungfrau geblieben, er wollte sich sexuell nicht aktiv betätigen, weil er Angst hatte, daß er als Märchenschreiber nicht so rein und phantasievoll schreiben kann, wenn er sich seinen Lüsten hingibt.

ABENDBLATT: Was finden Sie von sich bei Andersen wieder?

VON SINNEN: Thomas Mann hat eine Stelle beim Märchen von der kleinen Seejungfrau angekreuzt, wo sie ihren Schwanz weggibt und dafür zwei Beine bekommt, aber keine Stimme mehr hat, um zu sagen: "Ich liebe dich". Er war auch schwul, fühlte sich zu Männern hingezogen und konnte es nicht ausleben. Ich kenne dieses Gefühl, als Homosexuelle ausgegrenzt zu sein; verzweifelt zu sein, weil es einem selber doch nur um reine Liebe geht, die sich nun mal aufs eigene Geschlecht bezieht.

ABENDBLATT: Und dann haben Sie eine CD aufgenommen. . .

VON SINNEN: Ich hatte den Wunsch, die Andersen-Märchen nicht nur für mich im stillen Kämmerlein zu lesen. Der Mann hatte eine unglaubliche Phantasie und ist in Sphären vorgedrungen, um die ich ihn beneide. Den Kontakt zu Feen, Elfen und Blütenblättern, das finde ich schon sehr anziehend. Diese Märchen berühren mich in meiner Seele. Sie sind spannend, romantisch, poetisch. Als ich angefangen habe, mich intensiv damit zu beschäftigen, hat mir das unheimlich gutgetan, und ich habe Blumen und Bäume einfach wieder anders gesehen.

ABENDBLATT: Klingt nach einer Liebeserklärung . . .

VON SINNEN: Das kann man sagen. Ich habe mich in die Märchen wirklich verknallt.

ABENDBLATT: Haben Sie Andersen schon als Kind gern gelesen?

VON SINNEN: Ich habe als Kind mehrere Märchenbücher gehabt. Von Hauff, von den Brüdern Grimm und auch von Andersen. Aber das Andersen-Buch war das am wenigsten abgegriffene. Weil ich untröstlich war, wenn ich das "Mädchen mit den Schwefelhölzern" gelesen habe. Ich bin aus dem Heulen überhaupt nicht mehr herausgekommen. Wenn ich heute als Erwachsene lese, in welchem religiösen Glauben Andersen verhaftet war, dann sehe ich in dem Schluß, wenn die Großmutter als Engel auf die Erde kommt und das Mädchen zu sich holt, etwas durchaus Tröstliches. Ich denke, wenn man an ein Leben nach dem Tod oder eine andere Form der Existenz glaubt, kann der Schluß sehr trostspendend sein. Das war mir aber als Kind verwehrt. Ich habe auch immer gedacht, warum lassen die das häßliche Entlein nicht mitspielen? Ich habe mich als Kind nur auf das Ausgegrenztwerden fokussiert. Und das hat mich zutiefst traurig gemacht. Daher habe ich damals einen Bogen um die Märchen gemacht. Ich habe ja als Kind nicht die biographische Assoziation gehabt, daß Andersen aus den ärmsten Verhältnissen kam und zu einem strahlenden Schwan wurde. Weil ich nichts über den Dichter wußte. Und die anderen Märchen von der Teekanne oder der Stopfnadel habe ich gar nicht richtig kapiert.

ABENDBLATT: Sind es denn mehr Erwachsenenmärchen?

VON SINNEN: Ich glaube, daß Andersen für Kinder und Erwachsene geschrieben hat. Kinder können etwas damit anfangen. Er hat seine Geschichten ja auch mit Kindern entwickelt und für Kinder vorgelesen. Aber ich glaube, daß das, was er da an autobiographischen Sachen aufgearbeitet hat, was er den Leuten mit auf den Weg geben wollte, sich mehr an Menschen richtet, die schon ein bißchen Leben hinter sich haben. Aber: Er war einer der ersten Autoren, der den Kindern überhaupt eine Stimme gegeben und sehr lautmalerisch geschrieben hat - fast wie in einem Comic.

ABENDBLATT: Braucht man heutzutage überhaupt noch Märchen?

HELLA VON SINNEN: Märchen sind im Moment en vogue. Ich glaube, daß die Menschen prinzipiell ein Bedürfnis haben nach einer Welt mit Happy-End, nach einer Welt mit bunten Bildern, nach einer Welt mit Figuren, die sehr phantasiebegabt oder sehr zärtlich oder sehr originell sind. Ich persönlich empfinde die Zeit, in der wir leben, als sehr anstrengend. Angesichts der Medienpräsenz und der Schnellebigkeit des Alltags denke ich, daß das Bedürfnis sehr stark ist, sich mit einem Buch hinzusetzen. Bei mir hatte das jetzt nicht mit dem Andersen-Jubiläumsjahr zu tun. Es war wirklich zufällig, daß ich da auf diese Märchen gestoßen bin.

ABENDBLATT: Haben Sie ein Andersen-Lieblingsmärchen?

VON SINNEN: Ja. "Die kleinen

Grünen".

ABENDBLATT: Warum?

VON SINNEN: Da beschweren sich die kleinen Grünen darüber, wie sie von den Menschen behandelt werden. Und sagen, ihr wollt uns hier mit Seifenwasser vernichten, obwohl ihr alles freßt, was nicht bei drei auf den Bäumen ist. Und das finde ich auch wieder unfaßbar aktuell in der heutigen Zeit. Und die Pointe ist supersüß und witzig. Die möchte ich aber nicht verraten, sondern bei meiner Lesung in Hamburg vortragen . . .

Lesen Sie auch am Sonnabend, 2. April, unsere Berichterstattung zum 200. Geburtstag von Hans Christian Andersen im Wochenend-Journal.