Hamburg. Seit einem Jahr dominiert das Thema Corona die Berichterstattung im Fernsehen, Radio und den Zeitungen. Zeit für eine Selbstkritik.
Ende vergangener Woche machte eine Meldung die Runde, die alle Corona-Verharmloser nachdenklich stimmen muss: Im Dezember starben so viele Deutsche wie seit 1969 nicht mehr. Für Menschen, die Sars-CoV-2 noch immer für eine harmlose Grippe halten, waren diese Zahlen ein argumentativer Fangschuss. Für Zeitgenossen, die die grassierende Pandemie gern mit der Pest oder der Spanischen Grippe vergleichen, aber auch.
Während die Welt dieser Tage stillzustehen scheint, Grundrechte ausgesetzt sind und Schlagbäume niedergehen, sollte doch von Interesse sein, was da 1969 los war, als die Sterblichkeit noch höher war als in diesem verheerenden Corona-Jahr.
Fünf Jahrzehnte zeigen Wandel der Gesellschaft und der Medienlandschaft
Seltsamerweise scheint das niemanden sonderlich zu interessieren, dabei grassierte damals die Hongkong-Grippe. Die fünf Jahrzehnte, die zwischen den beiden Pandemien liegen, zeigen, wie sich Gesellschaft wandelt und welche Prioritäten sie setzt. Sie zeigen aber auch, wie sich die Medienlandschaft verändert hat.
Die Hongkong-Grippe 1969, die zu einem Rekord der Todesfälle in Deutschland führte, blieb ein mediales Nichtereignis. Statt Berichterstattung kamen Beschwichtigungen im Wochentakt: Regelmäßig las man auch im Hamburger Abendblatt die frohe Botschaft: „Keine Hongkong-Grippe in der Bundesrepublik.“
Aufruf zur Hilfe in Krankenhäusern
Stattdessen gaben die Behörden Tipps zur Vorsorge: „Jeden Morgen eine heiß-kalte Wechseldusche.“ Oder: „Fünf Minuten Gymnastik zur Aktivierung des Kreislaufs.“ Und: „Nicht mehr so viele Hände schütteln und „das Küssen auf weniger erkältungsgefährdete Zeiten verschieben“.
Was so harmlos klang, löste in den Kliniken der Stadt den Ausnahmezustand aus – aber kein Fernsehteam stand vor der Notaufnahme, kein Reporter twitterte aus Pressekonferenzen: Kurz vor Silvester 1969 wandte sich die Gesundheitsbehörde mit einem Hilferuf an die Öffentlichkeit: Ehemalige Krankenschwestern sollten „in den stark überbelegten Hamburger Krankenhäusern“ aushelfen.
Asiatische Grippe in den Medien kaum erwähnt
Die Lage in den großen Kliniken sei angespannt. Nur im Kleingedruckten erfuhr der Leser, dass wegen der Grippewelle deutschlandweit ganze Schulen schließen, Industriebetriebe stillgelegt und Straßenbahnen im Depot bleiben mussten – überall grassierte das Virus.
Noch weniger Schlagzeilen machte die Asiatische Grippe, die in den Jahren 1957 und 1958 wütete und mehr als eine Million Tote forderte. Als gleichzeitig acht Prozent der Hamburger Bevölkerung, also 144.000 von den insgesamt 1,8 Millionen Einwohnern erkrankten, war das dem Abendblatt nur einen Zweispalter wert.
Krankheiten damals weniger wichtig als Wirtschaftsteil
Lapidar hieß es da, die Gesundheitsbehörde schätze die Zahl der Erkrankten seit dem ersten Auftauchen der Asiatischen Grippe in der Hansestadt auf rund 630.000. „Das sind 35 Prozent der Gesamtbevölkerung, von denen jedoch der größte Teil bereits wieder genesen sein dürfte.“ Der Aufmacher der Zeitung lautete: „Eisenhower startet Redefeldzug gegen Pessimisten.“ Auch in den Archiven des Rundfunks herrscht Leere – die Grippe war kaum Thema.
Es waren andere Zeiten. Keiner sollte sich zurücksehnen nach einer Öffentlichkeit, die dem Wirtschaftswunder alles unterordnete – und die Asiatische Grippe gar für ein Hirngespinst hielt, deren wahrer Ursprung nur die Einführung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall war. Die „Zeit“ schrieb am 24. Oktober 1957 unter der Zeile „Eine Bonner Epidemie“ über die „Epidemie des „Krankfeierns“. Sie wird nicht ausgelöst durch ein Virus, sondern durch – ein Gesetz“. Verschwörungstheorien sind keine Spezialität des 21. Jahrhunderts.
Corona-Pandemie steht über allem
Sechs Jahrzehnte später regiert ein anderes Extrem: Heute wird alles der Bekämpfung der Pandemie untergeordnet: Klimaschutz, Konjunktur, Kinderarmut schrumpfen zu Randnotizen. Die Kollateralschäden der Corona-Politik spielen zwar eine Nebenrolle, werden aber nicht in Relation zur Therapie gesetzt.
Es geht immer um die Medikation, selten um Risiken und Nebenwirkungen. Politik, Medien und Öffentlichkeit wirken wie gefangen in ihrer Angst. Selbst jetzt, wo die Inzidenzen deutlich zurückgehen, die Zahl der Todesfälle sinkt und immer mehr aus der Risikogruppe geimpft werden, wird der Lockdown kaum infrage gestellt. Jetzt regiert die Angst vor den Corona-Mutationen.
Sind Medien für Klima der Angst verantwortlich?
Da müssen sich auch Medien, die sonst alles und jedes kritisch beurteilen, unbequeme Fragen gefallen lassen. Haben sie ein Klima der Angst begünstigt, ja befördert? Der Medienforscher Stephan Russ-Moll konstatierte im Oktober in der „Süddeutschen Zeitung“, er beobachte mit Sorge „den Overkill, mit dem Leitmedien, insbesondere das öffentlich-rechtliche Fernsehen, aber auch Zeitungen wie die „SZ“ und „FAZ“ über die Pandemie berichten“. Seine These hat es in sich: „Nicht die Regierenden haben die Medien vor sich hergetrieben, wie das Verschwörungstheoretiker so gerne behaupten. Vielmehr haben die Medien mit ihrem grotesken Übersoll an Berichterstattung Handlungsdruck in Richtung Lockdown erzeugt, dem sich die Regierungen in Demokratien kaum entziehen konnten.“
Im Frühjahr habe Corona 60 bis 75 Prozent der Sendezeit in den Nachrichtensendungen eingenommen. Die Medienwissenschaftler Dennis Gräf und Martin Hennig werfen den Fernsehsendern eine „Verengung der Welt“ vor und einen massenmedialen „Tunnelblick“. Andererseits: Welches Thema hat die Menschen jemals so bewegt wie die Pandemie?
Angst dominiert in Berichterstattungen
Trotzdem liegt eine Unwucht in der Berichterstattung: Es dominiert die Angst. Die Pandemie ist die erste weltweite Naturkatastrophe, seitdem die Welt zum globalen Dorf geschrumpft ist. Als die Pandemie noch weit schien, gruselten sich die Zuschauer am radikalen Lockdown in China, wo Drohnen die Ausgangssperre überwachten.
Näher rückte die Pandemie, als im März Italien in den Lockdown ging und ein paar Tage darauf die Armeelaster Särge durch das Dunkel der Nacht transportierten. Selten war die Macht der Bilder so dominant – vom Bestattungsnotstand in Berlin anno 1969 mit 800 Verstorbenen konnte man nur kurze Zeitungsnotizen lesen – der Bestattungsnotstand in Bergamo erreichte jeden über die Zeitung, lief in Endlosschleifen in Sondersendungen, überschwemmte die sozialen Netzwerke.
Falsche Grafiken und Prozentzahlen feuerten Angst an
Hinzu kamen Zahlen, die in dieser ersten Phase der Pandemie die Menschen schockierten: Selbst das Robert-Koch-Institut sprach von einer Letalität von vier Prozent – ohne klarzumachen, dass sich viel mehr Menschen infizieren und damit die Quote eben deutlich niedriger liegt. Infografiken zeigten Infektionszahlen, die ständig in die Höhe wuchsen, und vergaßen, die Genesenen herauszurechnen. Zahlen, die angeblich nicht lügen, legten das Fundament des politischen Handelns und wurden zum Turbo unserer Angst.
Plötzlich schienen die bekannten Hollywood-Blockbuster von Seuchen und Pandemien Wirklichkeit zu werden: Outbreak in Ohlsdorf, Armageddon in Alsterdorf. Und weil schlechte Nachrichten stets die maximale Aufmerksamkeit erreichen, versorgten viele Medien ihr Auditorium mit negativen Schlagzeilen. Aus dem Sammelsurium der Daten ließ sich immer etwas Negatives herausdestillieren.
An die eigene Nase fassen: Negative Schlagzeilen verkaufen sich gut
Nur: Bevor wir den Überbringer der schlechten Nachrichten köpfen, sollte sich ein jeder kritisch prüfen: Was wollen Sie lesen? Was wollen Sie sehen? Was wollen Sie teilen? In Zeiten der Aufmerksamkeitsökonomie handeln auch Journalisten ökonomisch. Wenn Nachrichten zur Ware werden, hängt ihr Wert von der Vermarktungsfähigkeit ab. Apokalypse sells.
Als im coronaruhigen Sommer bei Tönnies in den Fleischbetrieben das Virus ausbrach, stürzten sich alle auf die Infektionszahlen, die von Tag zu Tag stiegen: Kein Medium kam ohne die erschütternden Daten aus, die bis auf 2119 stiegen. Doch wer berichtete dann, wie viele letztlich ins Krankenhaus mussten (42) und wie viele starben (keiner)? Zunächst nur Radio Gütersloh. Immerhin: Der Deutschlandfunk machte sich Anfang September noch einmal die Mühe, genau draufzuschauen.
Schnell, kurz und steil - aber keine Zeit für Entwarnung
Und noch etwas hat die Medienwirklichkeit der 20er-Jahre verändert: Wir leben in einer Zeit des Häppchenjournalismus, der sich weniger an Zusammenhängen und inneren Widersprüchen orientiert als vielmehr an der Fähigkeit zum Twittern und Tickern: Es muss schnell gehen, es muss kurz sein, es muss steil klingen. Überall wird ständig Alarm geschlagen. Nur Entwarnung wird nicht mehr gegeben.
Und noch eine Entwicklung gilt es zu konstatieren, die für die Gesellschaft am Ende am gefährlichsten ist: Viele Medien kanalisieren die Welt immer stärker in einem Mainstream, der andere Meinungen ungern abbildet, aber gern diskreditiert. Haben Sie jemals von der Great Barrington Declaration gehört? In dieser Erklärung warben drei renommierte Epidemiologen aus Harvard, Oxford und Stanford Anfang Oktober für einen radikalen Kurswechsel in der Bekämpfung der Corona-Pandemie.
Wisschenschaftler: Alte Personen besser schützen, normales Leben für den Rest
Die Forderungen, die heute verwegen klingen, lasen sich schon damals überraschend: Wegen der „schädlichen Auswirkungen der vorherrschenden Maßnahmen auf die physische und psychische Gesundheit“ müsse der Schutz nun gezielter erfolgen. Ein anhaltender Lockdown „wird irreparablen Schaden verursachen, wobei die Unterprivilegierten unverhältnismäßig stark betroffen sind“, heißt es darin.
Alte und gefährdete Personen, so die Empfehlung der drei Wissenschaftler, sollten besser geschützt werden, der Rest normal weiterleben. Es gibt viele gute Gründe, das anders zu sehen, ja, derlei Forderungen abzulehnen. Aber man sollte es diskutieren. Das Problem: In Deutschland wurde es nie diskutiert – tagelang wurde die Erklärung ignoriert, dann in Misskredit gebracht. Die Redaktion des „Tagesschau“-Faktenfinders, der laut Selbstbeschreibung „Gerüchte“ untersucht und „gezielte Falschmeldungen richtigstellt“, nahm sich nach zwölf Tagen die Erklärung vor.
Große Debatte um „Zero Covid“
Das Ergebnis: „Die Alternativvorschläge sind nicht neu – bergen aber Gefahren für die Risikogruppen, die sie schützen sollen.“ Besonders kritikwürdig: Die drei Epidemiologen hätten den Sitz eines Think Tanks in Great Barrington für ihr Treffen nutzen dürfen, der „massive Kritik an den Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie äußert und den Klimawandel in Zweifel zieht“. Was das eine mit dem anderen zu tun hat, erfahren wir nicht – oder hilft die Information zu Joe Biden, dass die Mullahs im Iran sich eine Niederlage von Trump gewünscht hatten?
Auf wesentlich mehr Echo stieß nun Mitte Januar die Initiative „Zero Covid“, die ein radikales Herunterfahren der Wirtschaft fordert, um sämtliche Neuemissionen zu verhindern. Die Erstunterzeichner waren keine Epidemiologen, sondern vor allem Künstler, Aktivisten und Journalisten. Es waren aber Thesen, die in vielen Redaktionen viel Widerhall fanden. Deshalb wurden sie eifrig debattiert.
„Journalismus kann abdanken, wenn er harmlos wird.“
In manchen Medien hat sich eine Art „Nanny-Journalismus“ entwickelt: Man sagt nicht, was ist, sondern betont, was sein sollte, und verschweigt, was mutmaßlich den Falschen nutzen könnte. Es sind sicher hehre Ziele, die Pandemiepolitik zu unterstützen, aber hehre Ziele sind nicht Teil der Jobbeschreibung. Wie wusste schon Willy Brandt? „Journalismus kann abdanken, wenn er harmlos wird.“
Schlimmer noch: Viele Menschen verlieren das Vertrauen in Medien und beginnen, sich ihr Wissen auf obskuren Internetseiten oder in sozialen Netzwerken zusammenzusuchen. Damit gehen sie für eine offene Debatte und kluge Argumente verloren. Wie schon in der Flüchtlingsdebatte radikalisieren sich in der Corona-Debatte manche Andersdenkende.
Ehemalige Wähler der Grünen laufen zur AfD über
Das beliebte Motiv, jeden Gegner der Politik zu einem Aluhut, Verwirrten oder Rechtsradikalen zu erklären, ist so einfach wie gefährlich: Eine erste Untersuchung der Querdenker in Stuttgart zeigt, dass diese bei der vergangenen Wahl vor allem Grüne gewählt haben – und nun zur AfD überlaufen. Am Ende befördern Politik und Medien die Spaltung der Gesellschaft, die sie zu bekämpfen vorgeben.
In der vergangenen Woche lud Attac Hamburg mit der Katholischen Akademie und dem Umwelthaus am Schüberg zur kontroversen Online-Debatte „Mut zu Zwischentönen – Corona und die Rolle der Medien“. Der Andrang war so groß, dass die Server zusammenbrachen: In der Debatte mit Hunderten Zuhörern äußerten viele Bürgerinnen und Bürger gerade aus dem linken Spektrum ihren Unmut über die Berichterstattung. Es wäre gefährlich, sie als Corona-Leugner auszugrenzen.
Corona-Zeiten befeuern Schubladendenken
Aber wie in einem Comic ist in Corona-Zeiten das Schubladendenken weit verbreitet. Es gibt Helden und Schurken, Heilige und Teufel: Im Ausland schien es einfach, waren es doch zunächst Populisten wie Wladimir Putin, Boris Johnson, Donald Trump oder Jair Bolsonaro, die völlig falsch auf das Virus reagierten. Auch hierzulande waren die Rollen schnell verteilt: Christian Drosten, ein begabter Erklärer, gilt vielen als Offenbarung, seine wissenschaftlichen Gegenspieler, die Optimisten Hendrik Streeck und Jonas Schmidt-Chanasit, eher als Gottseibeiuns.
Der „Spiegel“ schaffte es, eine Generalabrechnung mit Letzteren als Interviewfrage an Drosten zu tarnen: „Einen größeren Schaden als Corona-Leugner haben im vergangenen Jahr wohl Experten angerichtet, die immer wieder gegen wissenschaftlich begründete Maßnahmen argumentiert haben, zum Beispiel Jonas Schmidt-Chanasit und Hendrik Streeck (…). Wann platzt Ihnen der Kragen?“ Interessanterweise platzte nicht der Branche der Kragen über einen solchen Stil, sondern viele fanden die Herangehensweise mutig.
Karl Lauterbach 14-mal in Talkshows eingeladen
Und wer wird in Talkshows geladen? Ungekrönter König bei ARD und ZDF ist Karl Lauterbach – er wurde gleich 14-mal in die Quasselrunden gebeten. Auf Rang 2 landeten die Virologen Melanie Brinkmann und Alexander Kekulé mit acht Auftritten. Beide stehen für unterschiedliche Positionen, immerhin. Aber die Unwucht bleibt.
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Auch das Schweden-Bashing war hierzulande beliebt, solange die deutschen Zahlen viel besser waren: Im Lauterbach-Modus tönten manche Medien: „Skrupellos“, „Irrweg“, „Russisch Roulette“, „tödlicher Sonderweg“, weil die Skandinavier einen weniger autoritären Weg wählen. Vielleicht aber wäre es angebrachter gewesen, die Kritik nicht auf den schwedischen Staatsepidemiologen Anders Tegnell zu konzentrieren, sondern auch das deutsche Robert-Koch-Institut und die Gesundheitsämter in den Blick zu nehmen.
Medien spiegeln die herrschenden Diskussionen
Trotzdem wäre es verkürzt, nun ein einseitiges Medienbashing zu betreiben, wie es manche Gegner allzu gern tun. Medien gestalten nicht nur die Debatte, sondern sind auch ein Spiegel der Diskussionen. Und sie sind vielfältiger, als ihnen Gegner oft vorwerfen. Die Medienkritik steht übrigens in den Medien.
Und es gab in den zurückliegenden Monaten viele Lichtblicke, Interviews mit Widerhaken, Reportagen mit Fragen, offene Diskussionen, kluge Kontroversen. Man musste sie nur etwas suchen, das ist das Problem. Und oft waren es redaktionsfremde Gastbeiträge, die gegen den Strich bürsteten. Insgesamt berichteten hierzulande übrigens Arte und die „Bild“-Zeitung am vielseitigsten und kritischsten.
Ob das eine gute Nachricht für alle anderen ist?