Tremsbüttel. Wo Beatles und Rolling Stones nächtigten, entsteht psychiatrische Einrichtung. Was Matthias Bühler antreibt – und die Idee auszeichnet.
Es ist das schrecklichste Wort, das ein Mensch mit seelischen Leiden zu hören bekommt: „austherapiert“. Wer austherapiert ist, bei dem wurde alles probiert. Der war in zahllosen Sitzungen, hat möglicherweise einen Klinikaufenthalt hinter sich. Und noch einen. Rückfälle, Rückschläge, Nackenschläge. Der ist an seiner psychischen Erkrankung ein zweites Mal erkrankt, weil er ahnt: Ich muss damit leben, mir kann keiner mehr helfen.
Das kann ein Burnout sein, der viele in die Frührente treibt. Es mag sich um eine Depression handeln, von der Ärzte sagen: Hier geht es ums nackte Überleben. Oder es ist eine Sucht, vielleicht eine Angststörung, möglicherweise Panikattacken, die sich einfach nicht in den Griff kriegen lassen.
Man kann immer was machen und sollte alles versuchen. Das meint Matthias Bühler, der solche Fälle von sogar sehr jungen und vermeintlich erfolgreichen Menschen kennengelernt hat. Nein, einen Medizin-Doktor hat er nicht, sondern einen in Betriebswirtschaft. Mit einem Begriff will er sich nicht zufrieden geben: „austherapiert“. Als ignoriere er einfach die Wirkmacht dieses Wortes, sagt Bühler: „Wir bauen ein Schloss der Freude, wo man die Seele gesunden lassen kann. Dazu kreieren wir Bausteine um die Therapie herum.“
Psychiatrische Klinik in Schloss Tremsbüttel
Das klingt esoterisch und ist doch das Gegenteil davon. Nämlich strategisch und medizinisch auf dem Stand der Wissenschaft. Bühler baut ein Schloss um: Tremsbüttel im Kreis Stormarn, inmitten einer entspannenden Landschaft und ein Hamburger Nachbar. Wie viel er mit Kauf und Umbau in das Anwesen investiert, um eine private Klinik daraus zu machen, das verrät er nicht. Mit gesetzlichen Krankenkassen ist er aber ebenso im Gespräch.
Und es ist nicht sein einziges Projekt. Standort Köln ist mit der psychiatrischen Klinik im Umfeld der Rheinland-Metropole schon an den Start gegangen. Das Schloss Gracht liegt bei Brühl und ist die Lokomotive von Bühler Health Care. Noch vor Tremsbüttel (im Sommer 2022) geht das Schloss Freudental bei Stuttgart im Frühjahr in den ärztlichen Betrieb. Einrichtungen rund um Frankfurt und Berlin sollen folgen. Es dürfte in Summe ein Projekt im dreistelligen Millionenbereich sein, das Bühler da umsetzt.
Warum Termine bei Psychotherapeuten so rar sind
Für ein Unterfangen, das nicht von der Börse oder renditefixierten Anlagefonds (Private Equity) getrieben ist, verblüfft dieses Konzept. Erst beim zweiten Blick ergibt das Sinn. Seit Jahren ist es für Menschen mit psychischen Erkrankungen schwierig, überhaupt Termine bei einem Therapeuten zu bekommen. Dann kam das Terminservice-Gesetz – und machte alles noch schwammiger. Dadurch müssen zum Beispiel niedergelassene Psychotherapeuten in ihren prall gefüllten Kalendern Zeiten freischaufeln, in denen sie Patienten zum Erstgespräch sehen, die über diese neue Terminvergabe kommen. Ob ein Patient überhaupt zu diesem Therapeuten wollte, ob der überhaupt der richtige Experte für sein Leiden ist – fraglich. Dieses Heilsversprechen wirkt wie ein Placebo. Der Weg zu einer erfolgreichen Therapie wird meist noch länger.
Manch Patient geht aufgrund des Leidensdrucks und fehlender Termine gleich ins Krankenhaus. Das wird mit Blick auf die Kosten noch teurer – und abgesehen von akuten und lebensbedrohlichen Fällen ist dieser Weg zweifelhaft. Denn erhält der Psycho-Patient – gern zum Wochenende, wenn die Einsamkeit erwacht – seine Entlasspapiere, steht da noch immer kein Therapeut zur Nachbehandlung. Eine kurzfristige Hospitalisierung nützt selten.
Was Bühler Health Care plant, ist vergleichsweise smart: Im Umfeld von Wirtschafts-Metropolen befindet sich eine Patientenschar, denen Burn-out, Versagensängste und Depressionen vertraute Begriffe sind. Auch Arbeitgeber haben ein vitales Interesse daran, dass ihre (Top-)Angestellten wieder auf die Beine kommen. Volkswirtschaftlich ist es ebenfalls sinnvoller, Menschen gesund im Job und im Job gesund zu halten, als sie in Rente zu schicken. Die psychischen Leiden sind ein gewaltiger Faktor in der gesundheitlich erzwungenen Jobaufgabe geworden. 42 Prozent aller Erwerbsminderungsrenten in Deutschland gehen auf seelische Leiden zurück, berichtete die Bundesregierung zuletzt.
Chefärztin vom UKE abgeworben
Bühler selbst betont: „Eine medizinisch evidente Therapie ist erforderlich, aber das ist nicht alles.“ Dazu gesellen sich ganzheitliche Ideen mit viel Bewegung, passender Ernährung, zum Teil durch Selbstgekochtes, bei Bedarf Musik – und auch der Hund findet in Tremsbüttel einen Platz. Klingt banal. „Aber Sie glauben nicht, wie wichtig das für manche Patienten ist.“ Natürlich muss Bühler als Mann, der sich nur technisch als Investor, in Wirklichkeit aber als Pionier sieht, die Fachleute anlocken, die mit ihrem Namen für das oberste Regal der Seelenheilkunst stehen.
Vom Universitätsklinikum Eppendorf (UKE) kommt Prof. Anne Karow als Klinikdirektorin und Chefärztin. Ärztlicher Direktor wird Prof. Matthias Lemke, der in derselben Funktion im Heinrich Sengelmann Krankenhaus wirkt. So rückt Tremsbüttel auch personell eng an Hamburg heran. 80 bis 85 Betten hat Klinik in Zukunft, es gibt Doppel- und Dreibettzimmer. Eine Tagesklinik wird zum Betrieb zählen. Der umfasst nach Eröffnung 130 bis 150 Mitarbeiter. Wo das Schloss sich der Seele öffnet, wird es viel Licht geben, hohe Räume – alles Elemente, die den Therapieerfolg begünstigen sollen. Das ist mehr als bloß „Chi-Chi“.
Was Mind-Body-Medizin bedeutet
Wie der UKE-Forscher Prof. Jürgen Gallinat dem Abendblatt sagte, fangen die Experten erst an zu verstehen, „wie Natur und Umwelt auf unsere körperliche und seelische Gesundheit“ wirken. In der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des UKE zeigten jüngste Daten, „dass auch die stationäre Behandlungsdauer depressiver Patienten davon abhängt, ob die Zimmer auf Grün oder Gebäude ausgerichtet sind“. Wie hell ein Raum ist, wie hoch die Decke – das sei ein Faktor in der psychischen Verfassung eines Menschen. Die Erkenntnisse dazu flössen auch in einen Neubau am UKE ein.
Bühler sagte, er habe sich zur Aufgabe gemacht, genau mit diesen Details achtsam umzugehen. So hat er die Firma Osram überzeugt, sich in die Überlegungen für ein angenehmes Therapielicht einzubringen. In der Klinik Gracht bei Köln wird ein ehemaliger Handball-Profi als Sportlehrer beschäftigt. Bei der Ernährung setzen Bühler Health Care und die dazugehörige Libermenta-Klinikgruppe auf die Lehren integrativer und Mind-Body-Medizin von Prof. Gustav Dobos.
Schloss Tremsbüttel wird komplett umgebaut
Die neue Nutzung wird den geschichtsträchtigen Ort Tremsbüttel nachhaltig verändern. Im Schloss selbst erhalten die hohen, herrschaftlichen Räume ein frisches Gesicht. Aus der Kornscheune wird ein Ärztehaus. Möglicherweise werden die Garagen noch umgebaut und mit einer Glasfront versehen. Licht und Transparenz sind Leitideen des Investors.
Er selbst mag gar nicht so viel preisgeben von sich. Matthias Bühler (46) ist der Sohn der Quelle-Erbin und Unternehmerin Madeleine Schickedanz und des früheren Top-Managers Wolfgang Bühler, ihres zweiten Mannes. Das Drama um die Schickedanz-Beteiligung am Arcandor-Konzern (die frühere KarstadtQuelle AG) und der in einem Vergleich abgewickelte Prozess um die Frage, ob die Unternehmerin von ihren Vermögensberatern getäuscht wurde, hat sicher auch an seinem Gemüt gekratzt.
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Umso erfrischender ist der klare geschäftliche Fokus des Investors. Man kann nur spekulieren, ob die Familiengeschichte darauf einen Einfluss hatte – aber auf den ersten Blick wirken die Klinikpläne gänzlich anders als die der Konkurrenz, die auch in Hamburg mithilfe von Finanzinvestoren in psychiatrische Privatkliniken investiert.
Was in Einrichtungen möglich ist, in denen die Chemie stimmt, konnte die Fachwelt während der Katastrophenflut im Rheinland in diesem Jahr beobachten. Auch die Libermenta-Klinik Schloss Gracht war von Erdrutschen, steigendem Pegel und Wassermassen bedroht. Ärzte, Mitarbeiter und Patienten packten an und stemmten sich gemeinsam gegen die Notlage. Ungewollt bekam der Gracht-Slogan eine sehr reale Note: Er heißt „Leben erleben“.
Wo die Beatles und die Rolling Stones logierten
Das Schloss Tremsbüttel ist im Prinzip ein altes Herrenhaus, das mit seinem Turm eher einer Burg gleicht und zuletzt als Hotel und Hochzeits-Gelegenheit genutzt wurde. Das Anwesen mit dem ausgedehnten Park aus dem ausgehenden 19. Jahrhundert war schon Filmkulisse und Oldtimermuseum. Tremsbüttel stand zuletzt im Besitz der Hamburger Unternehmerfamilie Strathmann und wurde mitsamt Restaurant und Café im Zuge der Corona-Pandemie im Sommer 2020 geschlossen, bevor es an Bühler Health Care ging. Die Beatles übernachteten bei ihren letzten Konzerten in Hamburg 1966 („Bravo Blitztournee) in Tremsbüttel. Der „Spiegel“ führte 1970 ein Gespräch mit Mick Jagger im Schloss, der dort mit den Rolling Stones logierte und beklagte sich: „Er kam in abgewetzten Jeans und gelbem Hippie-Hemd zum Interview.“